Der energethische Imperativ. Hermann Scheer

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Der energethische Imperativ - Hermann Scheer

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des alten Energiedenkens, das die Weltzivilisation in eine schon fast ausweglos scheinende Situation geführt hat.

      Die Uhr der unterirdischen, in Kohle und Uran, Erdöl und Erdgas gebundenen Energien läuft unweigerlich ab. Die Stunde schlägt für die oberirdischen erneuerbaren Energien. Deren vorhandenes Potenzial war vor hundert, tausend oder zehntausend Jahren schon genauso groß wie jetzt, und es wird in zehn, fünfzig, hundert oder wesentlich mehr Jahren nicht größer. Um das fossile und atomare Zeitalter schnell hinter uns zu lassen, sind 100 Prozent-Szenarien eine gedankliche Hilfestellung. Einen Plan oder gar eine Strategie liefern sie nicht. Auch das Buch »Wir haben die Wahl« von Al Gore, das den Untertitel »Ein Plan zur Lösung der Klimakrise« trägt, erfüllt die damit geweckten Erwartungen nicht. Es enthält einen anschaulichen Überblick über alle Energiequellen mit klarer Favorisierung der erneuerbaren Energien und fokussiert seine Handlungsempfehlungen auf eine CO2-Steuer und den Handel mit Emissionszertifikaten.[19] Für die Realisierung des Energiewechsels geben solche Skizzen nicht viel her. Die Frage, wie und von wem er realisiert werden könnte, wird nicht beantwortet. Um einen politischen Plan durchzusetzen, bedarf es jedoch strategischer Kompetenz für die Auseinandersetzung mit konterkarierenden Interessen und Strukturen.

      Die Systemdifferenz ist der dritte große Unterschied zwischen konventionellen und erneuerbaren Energien, neben dem Unterschied zwischen nur noch begrenzter und dauerhafter Verfügbarkeit und dem zwischen Emissionen einerseits und Nullemissionen andererseits. Sie ist objektiver Natur und darf deshalb nicht aus subjektiven Gründen der Konfliktvermeidung verwischt oder aus Gedankenlosigkeit unbedacht bleiben. Die mangelnde Beachtung dieser Systemdifferenz führt zu schweren strategischen Denkfehlern.

      Dazu gehört der Denkfehler, dass der Bann der Energiewirtschaft gegen erneuerbare Energien gebrochen wäre, sobald diese »wettbewerbsfähig« seien oder gar kostengünstiger produzierten. Dies ist jedoch ein systemischer Irrtum. Das konventionelle Energiesystem ist entlang des von ihm organisierten Energieflusses organisiert. Wenn aus diesem das wichtigste einzelne Element – das Kraftwerk – herausgenommen und durch eine Stromproduktion aus erneuerbarer Energie ersetzt wird, hat das unmittelbare Auswirkungen auf die diesem Kraftwerk vor- und nachgelagerten Einrichtungen. Die zuvor eingesetzte Primärenergie muss einen anderen Abnehmer finden oder wird gar nicht mehr nachgefragt. Das hat Auswirkungen auf die Primärenergiepreise und auf die Wirtschaftlichkeit der Transportinfrastrukturen. Gleiches gilt für den nachgelagerten Bereich, vor allem für das auf die Kraftwerkstandorte zugeschnittene Stromübertragungsnetz. Fällt ein Standort aus, weil der alternative Strom an anderer Stelle produziert werden kann, wird auch ein Teil des bestehenden Übertragungsnetzes überflüssig. Strom aus erneuerbaren Energien wird aber praktisch nie an denselben Standorten produziert wie konventionell erzeugter Strom, sondern in der Regel an vielen Standorten in kleinen Produktionseinheiten.

      Ob, wann und wie also ein Energiekonzern herkömmliche Energieangebote durch erneuerbare Energien ersetzen wird, ergibt sich nicht in erster Linie aus einer isolierten Kostenbetrachtung der Stromerzeugung. Die Entscheidungskriterien der Energiekonzerne haben andere Hintergründe. Sie erklären, warum z. B. ein Energiekonzern, der Kohlekraftwerke betreibt, zugleich im Kohlebergbau tätig ist (sich also selbst mit Brennstoffen beliefert) und auch noch Eigentümer des Übertragungsnetzes ist, sich gegenüber erneuerbaren Energien zögerlich verhalten wird, weil sie das eingespielte System stören. Wenn dieser Energiekonzern dennoch in erneuerbare Energien investiert, dann vorzugsweise außerhalb seines Bezugssystems. Der deutsche Stromkonzern E.ON investiert in Windkraftprojekte in Großbritannien statt in Deutschland, weil er so seine angestammten Kreise nicht stört. Er verhält sich systemlogisch, ebenso wie es auch andere Stromkonzerne tun.

      Mit anderen Worten: Die Stromerzeugungskosten oder auch die Brennstoffkosten für herkömmliche Energien sind für einen Stromkonzern nicht die einzigen Entscheidungskriterien, und nicht einmal die unbedingt wichtigsten. Entscheidend sind die jeweiligen Systemkosten des Unternehmens. Gleiches gilt für den Kraftstoffsektor: Benzin, Diesel und Kerosin werden in Ölraffinerien produziert. Die jeweiligen Derivate dieser Produktionssegmente stellen Sekundärstoffe dar, die etwa für die Produktion von Schmierölen, Düngemitteln und Kunststoffen genutzt werden. Fällt eines dieser Nebenprodukte aus der Verwertung, wird es zu Abfall. Solche internen Rückkopplungen erklären die geringe Flexibilität des etablierten Energiesystems gegenüber Substituten durch andere Anbieter, die den Betrieb stören. Die Energiekonzerne sind Gefangene ihres eigenen Systems. Ihr spezifisches Problem stellen sie jedoch gern als allgemeines dar, indem sie ihre Unternehmensratio zur volkswirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Rationalität verklären. Sie sehen die Einführung erneuerbarer Energien aus ihrem Blickwinkel, aber nicht aus dem des gesellschaftlichen Gesamtinteresses. Wenn sie sich daher auf erneuerbare Energien zubewegen, dann nur in dem Maße, wie sie das eingespielte System nicht durcheinander bringen. Erneuerbare Energien sind dann zunächst nur Ersatz oder Ergänzung. Der systemische »worst case« für die etablierten Energiekonzerne trifft ein, wenn der Durchbruch zu erneuerbaren Energien durch andere schnell und auf breiter Front erfolgt, so dass ihnen das Geschehen aus den Händen gleitet. Um nicht abgehängt zu werden, sind sie deshalb aktuell zu Eigenaktivitäten für erneuerbare Energien gezwungen, werden dabei aber immer für sie »systemgerechte« Ansätze bevorzugen.

      Wie bedrohlich der Wechsel zu erneuerbaren Energien für die Energiekonzerne ist, kann jeder ermessen, der sich konkret vor Augen führt, was geschieht, sobald dieser an Fahrt gewinnt. Jeder kann sich selbst die Frage beantworten, für wen die jeweilige Entwicklung vorteilhaft oder nachteilig ist. Es ist ein Wechsel

      – von Importenergie zu »heimischer Energie«, in allen Energieimportländern, wozu die Mehrzahl der Länder gehört;

      – von kommerzieller zu nichtkommerzieller Primärenergie, die weder gefördert noch aufbereitet werden muss und außerdem nichts kostet;

      – von einer teilweise über den halben Erdball reichenden Transportinfrastruktur für die Lieferung von Primärenergie (Pipelines, Schiffe, Züge, Tankwagen) zu einer Primärenergie, die keine Transportinfrastruktur braucht;

      – von konventionellen Energiespeichern zu neuen Speicherformen für die bereits in Strom und Wärme umgewandelten erneuerbaren Energien;

      – von wenigen Großkraftwerken zu zahlreichen Kraftwerken an vielen Standorten, und damit von wenigen Anbietern und konzentrierter Kapitalakkumulation zu vielen Anbietern, breit gestreuter Kapitalbildung und Wertschöpfung;

      – von vielen Hochspannungsleitungen, ausgehend von Großkraftwerken, zu einer Netzstruktur, die von regional breit gestreuten Produktionseinheiten ausgehen muss;

      – von der gegebenen Energielieferwirtschaft zur Produktion von Technologien, um erneuerbare Energien ernten, umwandeln und nutzen zu können.

      Die einzige Ausnahme bildet die Bioenergie, weil hier die Primärenergie produziert, aufbereitet und bezahlt werden muss, was sowohl im klein- wie im großunternehmerischen Format denkbar ist. Auch hier werden sich jedoch Lieferströme bzw. Bereitstellungsketten grundlegend von denen der fossilen Energien unterscheiden.

      Das konventionelle Energiesystem musste aufgrund der im globalen Maßstab notwendig gewordenen Entkoppelung von Energieförderung und Energieverbrauch zwangsläufig zu einem Reservat von Großunternehmen werden, die sich aus Gründen eigener Systemerhaltung immer mehr internationalisieren. Sie folgen damit der Systemlogik der konventionellen Energiequellen – ob als Importeur oder als Exporteur. Mit dem Wechsel zu erneuerbaren Energien werden fast alle Elemente des bisherigen Systems nach und nach funktionslos, mit den Zwischenstadien sinkender Kapazitätsauslastung. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien geht zu Lasten der bisherigen Energiewirtschaft und von deren Zulieferern, weil deren herkömmliche Systemelemente Zug um Zug unwirtschaftlich werden. Einen Zeitpunkt, an dem ihre Anlagen gleichzeitig abgeschrieben sind, gibt es nicht einmal theoretisch. Bereits

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