Der energethische Imperativ. Hermann Scheer

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Der energethische Imperativ - Hermann Scheer

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der objektiv möglich ist, erscheint konventionellen Energiekonzernen deshalb unmöglich – und ist es aus ihrer Sicht auch, wenn sie Kapitalvernichtung vermeiden wollen. Deshalb versuchen sie, den Wechsel zu erneuerbaren Energien entweder zu verhindern oder zu verschleppen und in jedem Fall unter ihre Kontrolle zu bringen. Weil sie selbst behindert sind, behindern sie andere. Sie folgen einer konzernwirtschaftlichen Ratio, die weder eine industriewirtschaftliche noch eine volkswirtschaftliche oder gesellschaftliche Rationalität sein kann. Sie sind die Verlierer des schnellen Energiewechsels – es sei denn, sie wären zu einer radikalen Selbstreform an Haupt und Gliedern unter Inkaufnahme schwerwiegender aktueller Verluste fähig und bereit. Aber welches Konzernsystem war dazu je in der Lage – zumal, wenn es mit so vielen räumlich weit auseinander liegenden Systemelementen verkettet ist? Dass ein Stromkonzern – wenn schon, denn schon – solare Großkraftwerke oder große Windparks auf hoher See vorzieht, kann daher nicht überraschen. Er wird das damit begründen, dass dies der »wirtschaftlichere« Ansatz sei. Aber wirtschaftlich für wen? Diese Vorlieben haben systemische Gründe und nicht allgemeingültig wirtschaftliche. Welche Technologie der erneuerbaren Energien – und damit welche ihrer Quellen – die wirtschaftlichere ist, hängt immer mit von deren Anwendungszweck und den Systembedingungen des Investors ab.

      Der Wechsel zu erneuerbaren Energien ist also unweigerlich ein Konflikt zwischen zwei unterschiedlich funktionierenden Energiesystemen. Erneuerbare Energien erfordern andere Techniken, Anwendungen, Standorte, Infrastrukturen, Kalkulationen, industrielle Schwerpunkte, Unternehmensformen, Eigentumsverhältnisse und vor allem andere rechtliche Rahmenbedingungen! Die Schrittmacherrolle für erneuerbare Energien kann nicht bei den Systemträgern der konventionellen Energieversorgung liegen, also der gegenwärtigen Energiewirtschaft. Diese kann sich nicht neutral gegenüber allen Energiequellen verhalten, weil ihr Systemzuschnitt auf die herkömmlichen Energien ausgerichtet ist. Weil der Energiewechsel schnell gehen muss, kann er nicht von denjenigen abhängig gemacht werden, die ein wirtschaftliches Eigeninteresse an seiner Verlangsamung haben. Nach einer äußerst kontroversen Fernsehdiskussion, die ich mit dem Vorstandsvorsitzenden eines deutschen Stromkonzerns darüber hatte, sagte dieser mir anschließend »persönlich vertraulich«: »Sie haben leider recht. Aber wenn ich das öffentlich zugebe, bin ich morgen draußen. Was würden Sie denn tun, wenn Sie auf meinem Stuhl säßen?« Ich konnte ihm nur sagen, dass ich mich nicht auf seinen Stuhl setzen würde, allerdings auch kein Mitleid habe, weil er für seine Berufslüge eine Entschädigung in Millionenhöhe bezieht.

      Die bestehenden strukturellen Barrieren gegenüber erneuerbaren Energien würden in der Praxis selbst dann weiterwirken, wenn die Konzerne sich vom Weltbild der konventionellen Energieversorgung gelöst hätten. Die treibenden Kräfte für den Wandel sind dagegen jene, die am wenigsten mit der etablierten Energiewirtschaft verflochten sind. Jede Strategie, die das übersieht, verfehlt ihr Ziel.

      Lester Brown, der Gründer des World-Watch-Institute und heutige Direktor des Earth Policy Institute in Washington, fordert in seinem Buch »Plan B« den Wechsel zu erneuerbaren Energien mit einer politischen Kraftanstrengung, die einer »wartime mobilization« in »Blitzgeschwindigkeit« entspricht. Er erinnert daran, wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt Anfang 1942, nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung gegen die USA im Dezember 1941, die militärische Mobilmachung einleitete und die sofortige massive Produktion von Kriegsschiffen, Flugzeugen und Panzern veranlasste: »Und niemand soll zu sagen wagen, das sei nicht möglich.« Unter anderem wurde der Verkauf privater Autos für fast drei Jahre verboten, um das gesamte Produktionspotenzial der Automobilindustrie für die Produktion von Kriegsfahrzeugen einzusetzen.[20]

      Eine außergewöhnliche Kraftanstrengung ist auch geboten, um den faktisch stattfindenden atomar-fossilen Krieg gegen die Lebenschancen der menschlichen Zivilisation zu beenden. Doch ist dies die einzige Analogie zu Roosevelts militärtechnischer Mobilmachung. Die Mobilisierung für den Energiewechsel bedarf gänzlich anderer Ansätze als des von Roosevelt gewählten, denn sie richtet sich gegen völlig andere Kontrahenten. Sie zielt auch auf die Produktion neuer Technologien, auf einen umfassenden wirtschaftlichen Strukturwandel, eine neue Kultur des Wirtschaftens unter neuartigen Rahmenbedingungen – und nicht auf staatsdirigistische Eingriffe in Unternehmensentscheidungen. Stattdessen zielt sie darauf, den strukturellen Dirigismus der konventionellen Energieversorgung außer Kraft zu setzen.

      Vorbildlich ist Roosevelt jedoch mit dem Konzept der zielbewussten Bündelung aller notwendigen Kräfte mit unkonventionellen Methoden. Er wollte keine Situation zulassen, in der er hätte sagen müssen: »Leider können wir die Kriegsführung Japans und Hitler-Deutschlands nicht angemessen durchkreuzen, weil dies den bestehenden Wirtschaftsstrukturen zu viel abverlangt.« Genauso wenig dürfen wir die strategische Mobilisierung für den Energiewechsel davon abhängig machen, ob diese mit den der konventionellen Energieversorgung verhafteten Interessen und Strukturen vereinbar ist. Die nächste Generation, die mit den katastrophalen Folgen fossiler und atomarer Energien zurechtkommen muss, wird sich nicht mit der Entschuldigung besänftigen lassen: »Wir hätten sie durch den konsequenten Wechsel zu erneuerbaren Energien abwenden können, aber wir mussten auf entgegenstehende Interessen Rücksicht nehmen. Das war wichtiger. Wir bitten um Verständnis.«

      Jede Strategie für den Energiewechsel verlangt, Hindernisse zu beseitigen, die jedoch von Land zu Land unterschiedlich sind. Aufgrund des jeweils unterschiedlichen natürlichen Angebots erneuerbarer Energien können die Gestaltungsschwerpunkte des Energiewechsels nicht weltweit die gleichen sein. Aus den Monokulturen der konventionellen Energieversorgung, die sich im internationalen Vergleich stark ähneln, entstehen verschiedenartige Multikulturen erneuerbarer Energien. Die strategische Mobilisierung erneuerbarer Energien muss schon deshalb vor allem eine einzelstaatliche sein – nicht aus engen nationalistischen Gründen, sondern weil sie sich auf das jeweilige natürliche Angebot erneuerbarer Energien sowie auf die jeweiligen Wirtschaftsstrukturen und Rechtsordnungen beziehen muss, die mit der konventionellen Energieversorgung vielfältig verquickt sind.

      Hinzu kommen die sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstadien: Es gibt Entwicklungsländer, Schwellenländer und Industrieländer, Länder mit einem durchstrukturierten Strommarkt und solche, in denen nur spärliche Netze existieren. Es gibt Energieexport- und Energieimportländer, großflächige Länder mit geringer und kleinflächige mit hoher Siedlungsdichte. Für den durchgehenden Energiewechsel kann es also nicht eine Strategie geben, die auf alle übertragbar ist. Erfolgreiche Konzepte, wie etwa das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz, können zwar vielen Ländern zum Vorbild werden. Aber auch dies ist nur möglich, wo Netzinfrastrukturen bestehen – und nur, wenn es um Strom- oder Gaslieferungen geht. Einflächendeckender Ausbau eines Stromnetzes, woran es in vielen Entwicklungsländern fehlt, ist aber dort für die Mobilisierung der erneuerbaren Energien gar nicht mehr nötig und würde sie erheblich verzögern. Überdies geht es nicht allein um die Stromversorgung und um den Strommarkt, sondern auch um Fragen der Wärme- und Kraftstoffversorgung, um Marktordnung, Raumordnung, um das Bau- oder Steuerrecht, und nicht zuletzt um Fragen der jeweiligen politischen Handlungskompetenzen in unterschiedlichen Verfassungsordnungen.

      Für jede politische Mobilisierungsstrategie zu erneuerbaren Energien sind zwei Handlungsgrundsätze von maßgeblicher Bedeutung:

      – Zum einen muss über den konventionellen energiewirtschaftlichen Kalkulationsrahmen hinausgegangen werden, der sich nur auf aktuelle Kostenvergleiche zwischen konventionellen und erneuerbaren Energietechniken bezieht. Die größten volkswirtschaftlichen Kostenfaktoren der konventionellen Energieversorgung bleiben dabei in der Regel unbeachtet und tauchen in den Energiepreisen nicht auf, nämlich die Belastung der Zahlungsbilanz durch Energieimporte sowie Gesundheits-, Umwelt- und Klimaschäden. Unberücksichtigt bleiben auch die über die Kraftwerks- oder Raffineriekosten hinausgehenden Infrastrukturkosten der konventionellen Energielieferkette. Das Maß der Dinge sind die volkswirtschaftlichen Vorteile, die sich durch erneuerbare Energien ergeben. Sie gelten jedoch nicht für alle Wirtschaftsteilnehmer gleichermaßen. Politische Konzepte zur Mobilisierung erneuerbarer

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