Der energethische Imperativ. Hermann Scheer

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Der energethische Imperativ - Hermann Scheer

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Kommunale Energieunternehmen, die zum Anhängsel der konventionellen Energieversorgung geworden waren, sehen neue Chancen, mit erneuerbaren Energien in Zukunft eine eigenständige Rolle zu spielen. Je populärer erneuerbare Energien werden, desto mehr stellen sich die politischen Parteien und Institutionen auf sie ein.

      Auch in der etablierten Energiewirtschaft wächst eine neue Generation von Entscheidungsträgern heran, die erkennt, dass Atomenergie und fossile Energien in eine Sackgasse führen. Sie versuchen deshalb, den Einstieg in erneuerbare Energien in einer Weise zu gestalten, die in die Struktur der überkommenen Energieversorgung passt. Die alte Methode der Verweigerung hat sich verbraucht. Jetzt geht es ums Mitmachen, darum, in den anfahrenden Zug einzusteigen und zumindest noch dessen Fahrplan und Geschwindigkeit beeinflussen zu können. Außerdem versuchen Energiekonzerne ihr Festhalten an Atomenergie und fossilen Energien öffentlich damit zu rechtfertigen, dass sie selbst auch in erneuerbare Energien investieren.

      Parallel zur Auflösung der bisherigen Verweigerungsfront hat sich auch das Spektrum der Protagonisten erneuerbarer Energien differenziert. Politische Ansätze, die die Entwicklung angestoßen haben, müssen modifiziert werden. Dazu gibt es vielerlei Vorschläge, denen es aber oft an Konsistenz und vorausschauender Konzeptklarheit mangelt. Konkurrierende Interessen, die sich im Zuge der Entfaltung erneuerbarer Energien herausgebildet haben, brechen auf, sobald es um die Anteile am sich vergrößernden Kuchen geht. Befürworter erneuerbarer Energien, die gleichwohl die überkommene Energiewirtschaft als Dreh- und Angelpunkt der Energieversorgung betrachten, sehen in deren verändertem Tonfall Kooperationsbereitschaft. Produzenten von Erneuerbare-Energien-Anlagen erhalten Bestellungen von Energiekonzernen und werden Geschäftspartner. Forschungsinstitute für erneuerbare Energien erhalten inzwischen auch Studienaufträge von etablierten Energieunternehmen. Regierungen laden zu Konsensgesprächen ein, in denen es um ein Nebeneinander und Miteinander von konventionellen und erneuerbaren Energien und um das wechselseitige Abstecken von Claims geht. Vielen Verfechtern erneuerbarer Energien, die sich lange in einer verachteten Außenseiterrolle befanden, erscheint das als großer Fortschritt. Und weil Konsens immer angenehmer ist als Konflikt, entsteht daraus auch praktische Kompromissbereitschaft, in der oft unversehens die meist unsichtbare Grenze überschritten wird, an der ein Kompromiss aufhört und die Kompromittierung beginnt.

      Dies alles ist typisch für Übergangsphasen, in denen sich alle Beteiligten auf eine neue Situation einstellen und viele auf einen Konsens hoffen, der ihnen gewisse Sicherheiten gibt. Nicht jeder kann oder will dabei an die Gesamtentwicklung denken. So hilfreich und konstruktiv ein Konsens sein kann, so sehr kann er auch lähmen. Die Frage muss stets sein: Konsens für was und mit wem, und wer sitzt dabei am längeren Hebel? Ein Konsens unter allen, die von dem Wandel in sehr unterschiedlicher Weise tangiert sind, führt zwangsläufig zur Verlangsamung. Oder Konsens unter denjenigen Kräften, die ein gemeinsames Ziel anstreben und sich dafür verbünden? Ein Konsens aller Betroffenen für einen schnellen Energiewechsel wäre nur denkbar, wenn das damit verfolgte Ziel eine »win-win«-Perspektive für alle eröffnete. Dieses Versprechen wird gerne von denen geäußert, die notwendigen Konflikten ausweichen wollen. Bei der Umorientierung zu erneuerbaren Energien ist jedoch ein »win-win« objektiv unmöglich.

      Der Wechsel zu hundert Prozent erneuerbaren Energien bedeutet den umfassendsten wirtschaftlichen Strukturwandel seit dem Beginn des Industriezeitalters. Ein Strukturwandel ohne Verlierer und Gewinner ist undenkbar. Verlierer werden unweigerlich die Anbieter der konventionellen Energien sein – in welchem Ausmaß das der Fall ist, hängt von ihrer Einsicht, Bereitschaft und Fähigkeit ab, sich an Haupt und Gliedern umzustrukturieren, sich mit drastisch sinkenden Marktanteilen abzufinden und neue Tätigkeitsfelder für sich zu finden, die keine energiewirtschaftlichen mehr sein werden. Versuche, der Verliererrolle in diesem Wandlungsprozess zu entkommen und ihre zentrale energiewirtschaftliche Rolle zu behalten, führen zu widersprüchlichen, untauglichen und teuren Verlangsamungsstrategien. Die Gewinner des Wechsels werden die Weltzivilisation insgesamt und ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften sein, und in diesen die Technologieunternehmen sowie viele lokale und regionale Unternehmen. Es wird in jedem Fall entschieden mehr Gewinner des Energiewechsels als Verlierer geben. Einem großen Teil der potenziellen Gewinner sind die Chancen noch nicht bewusst, weshalb sie noch auf der Gegenseite stehen. Den größeren Einfluss auf das praktische Geschehen haben derzeit noch die etablierten potenziellen Verlierer, den geringeren die noch längst nicht etablierten Gewinner.

      Realer Realismus

      Zwar treibt jede wirtschaftliche wie auch politische Initiative für erneuerbare Energien, unabhängig von dem jeweiligen handlungsleitenden Motiv, die Entwicklung irgendwie voran. Dennoch sind nicht alle gleichwertig und für die Realisierung eines schnellen Energiewechsels gleich geeignet. Deshalb ist es entscheidend, die Spreu vom Weizen zu trennen und zu erkennen,

      – welche Initiativen die uneingeschränkte Entfaltung erneuerbarer Energien ermöglichen und welche sie nur in einem beschränkten Ausmaß erlauben – und ob sie sich ergänzen oder wechselseitig im Wege stehen;

      – welche Konzepte die Zahl der Akteure für erneuerbare Energien erweitern und ihnen die erforderlichen Handlungsspielräume geben, und welche demgegenüber das Spektrum auf wenige Akteure reduzieren, von denen dann der weitere Verlauf abhängig ist;

      – welche Initiativen den vielfältigen Motiven für die Umorientierung auf erneuerbare Energien gerecht werden, statt sie auf einen Zweck – etwa ihre Bedeutung für den Klimaschutz – zu verengen, was automatisch zu beschränkten Konzepten führt.

      Der Katalog strittiger Fragen ist groß: Was muss von internationalen Vertragsbemühungen abhängig gemacht werden? Sind die Weltklimaverhandlungen der Königsweg, von dem alles weitere abhängt, oder ein Trampelpfad, auf dem kaum etwas vorankommen kann? Fördert der Emissionshandel den Energiewechsel oder bremst er ihn? Sind umfassendere multilaterale Ansätze nötig oder mehr einzelne Schrittmacher? Welchen Stellenwert haben die verschiedenen Optionen für erneuerbare Energien? Sollen erneuerbare Energien vorwiegend dort gewonnen werden, wo mehr Sonne scheint oder mehr Wind weht, also in räumlicher Konzentration, oder überall? Was ist unter einer »kostengünstigen« und »wirtschaftlichen« Energieversorgung zu verstehen? In den Vordergrund der strittigen Fragen rückt dabei zunehmend die Diskussion über »dezentrale« oder »zentrale« Strukturen einer Energieversorgung mit erneuerbaren Energien: Sind Großkraftwerke dafür überhaupt notwendig, und wenn, unter welchen Bedingungen? Ist ein weiträumiger Netzausbau mit »Supergrids« auch für eine überwiegend dezentrale Bereitstellung erneuerbarer Energien unverzichtbar, oder muss der Schwerpunkt bei regionalen und lokalen »smart grids« liegen? Aus diesen Streitfragen ergeben sich nicht nur unterschiedliche Handlungskonzepte, sondern auch Zielkonflikte über die Einführung erneuerbarer Energien, die angesprochen und ausgetragen werden müssen. Davor scheuen nicht nur Parteien und Regierungen, sondern auch viele Verfechter erneuerbarer Energien zurück und erklären aus Gründen der Konfliktvermeidung alle divergierenden Konzepte für gleich wichtig und förderungswürdig.

      Kontroversen über die Mittel und Wege zu erneuerbaren Energien werden nicht nur in politischen Institutionen ausgetragen, sondern auch in Umweltorganisationen und Organisationen für erneuerbare Energien. Sie verwirren viele und führen zu öffentlicher und politischer Verunsicherung darüber, welcher Weg zum Energiewechsel eingeschlagen werden soll. Deshalb ist eine kritische Bestandsaufnahme überfällig, die die verschiedenen Ansätze nach ihren praktischen Erfolgsaussichten und Konsequenzen bewertet. Über allem steht dabei die Frage, warum die unübersehbar und unaufschiebbar gewordene energetische Existenzfrage – die nicht zuletzt eine ethische ist – immer noch überwiegend halbherzig behandelt wird, obwohl die dafür angegebenen Gründe fadenscheinig sind und ein konsequent forcierter Energiewechsel unerlässlich geworden ist. Es gibt kürzere und längere Wege, die »nach Rom führen«. Sie sind mit vielerlei unterschiedlichen Widerständen und Umsetzungsproblemen gepflastert und haben verschiedenartige politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Auswirkungen. Umso wichtiger ist es, diejenigen Wege klar zu erkennen, auf denen das Ziel des Energiewechsels am schnellsten erreichbar ist. Ob diese Wege eingeschlagen werden, darf nicht

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