Aus Liebe zu den Pflanzen. Stefano Mancuso

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Aus Liebe zu den Pflanzen - Stefano Mancuso

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der jahrzehntelang Präsident der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und Mitentdecker des Wawilow-Tscherenkow-Effekts ist, für den Tscherenkow 1958, sieben Jahre nach Sergei Wawilows Tod, den Nobelpreis für Physik erhalten sollte.

      Nikolai Wawilows wissenschaftliche Laufbahn beginnt 1906: Mit einem Handelsschulabschluss in der Tasche schreibt er sich am Landwirtschaftlichen Institut in Moskau ein, einer der renommiertesten Hochschulen des Landes. Von Anfang an zeichnet er sich durch ein gewaltiges Arbeitspensum und außerordentliche Fähigkeiten aus: 1908 nimmt er an einer Forschungsreise in den Kaukasus teil, 1909 schreibt er eine Abhandlung über Darwins Abstammungslehre, und 1910 beschäftigt er sich in seiner Abschlussarbeit mit der Frage, wie man Nutzpflanzen vor Krankheitskeimen schützen kann. Und schon 1912 legt Wawilow seine bahnbrechende Forschungsarbeit Genetik und Agrarwissenschaften vor, in der er detailliert das Arbeitsprogramm entwickelt, an dem er sein Leben lang unbeirrt festhalten wird: nämlich mithilfe der Genetik die Eigenschaften von Nutzpflanzen zu verbessern. In den Jahren 1913 und 1914 rundet er sein Hochschulstudium schließlich durch Auslandsreisen ab, die ihn zu den angesehensten europäischen Forschungslaboren führen: nach Cambridge in Großbritannien, wo William Bateson sein Labor hat, nach Paris in das Institut Pasteur und nach Deutschland.

      Besonders der Besuch bei Bateson, dem wir das Wort »Genetik« verdanken und der einer der Gründerväter der gerade aufkommenden Wissenschaft ist, beeindruckt Nikolai Wawilow nachhaltig und bestärkt ihn in der Überzeugung, dass man Nutzpflanzen mithilfe der Vererbungslehre wesentlich wirksamer verbessern könne als durch herkömmliche Zuchtmethoden. Der Agrarwissenschaftler Nikolai Wawilow ist der Erste, der die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der Genetik erkennt und das revolutionäre Potenzial, das sie für die Landwirtschaft bereithält.

      Seine Lebensaufgabe sieht Wawilow ab nun darin, neue genetische Nutzpflanzenvarianten mit außergewöhnlichen Eigenschaften zu entwickeln. Dabei geht es um mehr als bloße Leidenschaft: Er ist überzeugt davon, dass das Schicksal der UdSSR von Superpflanzen abhängt, die er hoffentlich entwickeln wird. Die russische Revolution hat die Landwirtschaft ins Chaos gestürzt. Die neue Sowjetunion, einst die Kornkammer Europas, kann sich nicht einmal mehr selbst ernähren.

      Wawilows Plan ist ebenso einfach wie genial: Er will die besten Eigenschaften aller weltweiten Varianten der bedeutsamen Kulturpflanzen in einer Reihe von Superpflanzen vereinigen, die das Land ernähren werden. Er ist überzeugt, dass sich die besten Pflanzenmerkmale quasi wie in der Werkshalle zu Supervarianten montieren lassen: zu Obstbäumen, die gegen jeden Erreger resistent sind, oder zu Supergetreidesorten, die die Erträge von Flachlandvarianten mit der Frostbeständigkeit von Bergvarianten verbinden. Er steht somit vor einer Herkulesaufgabe, die viel Zeit und Geld erfordert. Denn die Arten mit den gewünschten positiven Eigenschaften sind vor Ort natürlich nicht alle verfügbar. Es sind also umfangreiche Forschungsreisen erforderlich, mit dem alleinigen Ziel, Pflanzenexemplare zu sammeln und ihre Samen in Russland zu konservieren.

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       Nikolai Wawilow auf einer seiner Forschungsreisen im Iran, wo er nach Getreidesamen suchte

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      Russische Bäuerinnen einer Kolchose marschieren in Richtung Arbeitsplatz. Sie ersetzen die Männer, die als sowjetische Soldaten gegen Weißrussland kämpfen.

      Als man Wawilow 1916 in den Iran schickt, um herauszufinden, warum dort so viele russische Soldaten mit Vergiftungserscheinungen sterben, erkennt er schnell, dass das Getreide, das man dort zum Brotbacken verwendet, von Fusarium, einem Schimmelpilz, befallen ist. Und er nutzt die günstige Gelegenheit, um die Pflanzen zu erforschen, die man im Iran und in den Bergen von Turkmenistan und Tadschikistan anbaut. Bei seiner Rückkehr nach Russland hat er Zigtausende Pflanzenexemplare im Gepäck: die Grundlage seiner außerordentlichen Sammlung.

      In den 1920er-Jahren bis Anfang der 30er-Jahre leitet Wawilow schließlich ein Expeditionsprogramm, um weltweit Nutzpflanzen zu erforschen. Er organisiert – und führt häufig selbst hoch zu Ross – hundertfünfzehn Expeditionen in vierundsechzig Länder, unter anderem in den Iran, nach Afghanistan, Taiwan, Korea, Spanien, Algerien, Palästina, Eritrea, Argentinien, Bolivien, Peru, Brasilien, Mexiko oder Kalifornien, Florida und Arizona in den Vereinigten Staaten. Bei seiner Pflanzensuche konzentriert er sich auf »Gegenden, in denen von alters her Landwirtschaft betrieben wird und eine autochthone Kultur entstanden ist«.

      Auf der Grundlage der Erfahrungen, die er auf seinen zahlreichen Expeditionen gesammelt hat, kann Wawilow schließlich in seinem Werk Ursprung, Variation, Immunität und Kreuzung von Nutzpflanzen seine Theorie von den Ursprungszentren der Nutzpflanzen darlegen, die er 1926 weiter präzisiert: Das Ursprungszentrum einer Art ist die Region mit der größten Diversität. Diese Zentren liegen nach Wawilow in eng umgrenzten geografischen Regionen der Welt, vor allem in den Bergländern Asiens und Afrikas, entlang der Mittelmeerküste sowie in Mittel- und Südamerika. Wawilow entdeckt, dass ungefähr ein Drittel aller weltweiten Nutzpflanzenarten ursprünglich aus Südostasien stammt, die wichtigsten fruchttragenden Pflanzen in Asien und dem Mittelmeerraum beheimatet sind und Wurzel-, Knollenpflanzen und tropische Früchte vorwiegend aus Mittelamerika und den Anden kommen.

      Die Ausbeute seiner Expeditionsreisen baut Wawilow zu einer riesigen Sammlung auf: Er lagert über fünfzigtausend Wildpflanzenarten und einunddreißigtausend Getreidesorten in einem gewaltigen unterirdischen Bunker seines Instituts in Sankt Petersburg. Und von jeder gesammelten Pflanze bewahrt er die Samen auf. Er weiß, dass das Samenkorn eine widerstandsfähige Überlebenskapsel ist, die nicht nur den Embryo der Pflanze, sondern auch dessen Nahrung enthält. Um das genetische Erbe zu bewahren, gibt es nichts Besseres als das Samenkorn.

      Auch hier erweist sich Wawilow als Pionier. Er begreift, dass man mit einem Samenkorn das bewahren kann, was wir heute Biodiversität nennen, und baut als Erster eine riesige Samengutbank auf – die bis heute funktionstüchtig ist. Sein Beispiel findet in den folgenden Jahren zahlreiche Nachahmer: Überall auf der Welt entstehen Keimplasmabanken. Doch für Wawilow ist die Sammlung in Sankt Petersburg – damals Leningrad – nur der erste Schritt seines komplexen, aufwendigen Projekts, eine Generation von Superkulturen hervorzubringen.

      Lenin ist von Wawilows Zukunftsvision der sowjetischen Landwirtschaft überzeugt und ernennt ihn zum Leiter der wichtigsten agrarwissenschaftlichen Institute des Landes. Schon bald hat Wawilow bedeutende Ämter inne: Präsident der Geografischen Gesellschaft der Sowjetunion, Leiter des Sowjetischen Instituts für Genetik, Leiter des Allumons-Instituts für Pflanzenzüchtung und schließlich das prestigeträchtigste Amt: Präsident des Lenininstituts für Agrarwissenschaften. Auf Wawilows Schultern ruht nun eine immense Verantwortung, und als Wissenschaftler verfügt er endlich über optimale Möglichkeiten, um sein ehrgeiziges Programm der genetischen Züchtung in die Praxis umzusetzen.

      Die Züchtung neuer Pflanzensorten mit vorteilhaften Merkmalen hat bis dahin buchstäblich Jahrzehnte gedauert, wenn nicht gar Jahrhunderte. Und Wawilow ist klar, dass die Kenntnis der Vererbungsgesetze zwar eine wesentlich schnellere Arbeitsweise ermöglicht, sein Vorhaben aber selbst bei optimistischer Schätzung noch immer langwierig bleibt. Die Zeitfrage ist für Wawilow der entscheidende Punkt. Das sowjetische Volk stirbt vor Hunger; es ist Eile geboten.

      Man arbeitet in rasender Geschwindigkeit: Expeditionen, Erforschung der Merkmale der mitgebrachten Pflanzen – in der ganzen Sowjetunion entsteht ein Netzwerk aus Versuchsstationen, an denen die Leistungsfähigkeit der neuen Sorten erprobt wird. Und zwar in nur wenigen Jahren. Wie Wawilows Mitarbeiter berichten, lautet ein Lieblingssatz von Wawilow: »Das Leben ist kurz, man muss sich beeilen.« Und da weiß er noch nicht, wie recht er behalten sollte.

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