Verkörperter Wandel. Martin Witthöft

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Verkörperter Wandel - Martin Witthöft

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Wut kann zu Verspannungen im Bereich der Schulterpartie oder im Kiefer führen etc. (Boadella 1991). Die Literatur der Körperpsychotherapie beschreibt diese Phänomene sehr detailliert.

      In bestimmten Situationen kann ein Organismus oder ein ganzes System einzelne Pulsationsfelder einschränken oder sogar aussetzen. Dies ist sinnvoll, wenn auf diese Weise übergeordnete Systeme geschützt werden können. So gibt es in massiv bedrohlichen Situationen drei grundsätzliche Reaktionsmuster. Das erste besteht darin, sich der Gefahr im Kampf zu stellen, das zweite, sich ihr durch Flucht zu entziehen. Scheint beides unmöglich, fällt der Körper in das dritte Muster, eine Art Starre. Bei einer Traumatisierung bleibt, selbst wenn die Gefahr vorüber ist, die Muskelpulsation reduziert und eingefroren im Überlebensmodus. Gefühle werden nur noch eingeschränkt wahrgenommen.

      Peter Levine interpretiert die körperliche Starre traumatisierter Menschen als eingefrorene Flucht- oder Kampfbewegungen. Er ermutigt seine Patient*innen, ihrem Körper aufmerksam zu folgen und sich den erstarrten Reaktionen bis zum Ende hinzugeben. Dabei entstehen häufig unwillkürliche Entladungen wie Zittern, Kälte, Schaudern, Hitzewellen etc. Die sich dabei wieder entfaltende gesunde Pulsation der Muskulatur hat eine signifikante Erhöhung der Lebensqualität zur Folge (Levine 2011).

      Diese Art der Entladung ist jedoch nur heilsam, wenn der oder die Betroffene ausreichend psychisch stabil ist und sich in einer sicheren Umgebung befindet. Andernfalls kann das Reaktivieren dieser Energie zu einer Retraumatisierung führen.

      In der yogapsychologischen Körperarbeit versuchen wir durch ­Pranidhana, die Hingabe an die Pulsationsmuster der Muskulatur und der Atmung, eine Freisetzung unterdrückter, gebundener Emotionen zu fördern. Erst das ungehemmte Zulassen der Pulsation von Muskulatur und Atmung ermöglicht uns, lebendige Körperlichkeit wieder tief zu erleben. Starre beschreibt dagegen stets das Einfrieren von Schwingungsfähigkeit. Dabei spielt es keine Rolle, um welche Ebene der Pulsation es sich handelt.

      Grün: Rajas, Mitgefühl und Annahme – Die emotionale Ebene

      Die Farbe Grün steht in unserem Bild für das Gefühl, das subjektive Erleben. Ursprünglich bedeutet Rajas »der gefärbte Raum«. Eine treffende Beschreibung für das, was Emotionen tun: Sie färben den Raum unserer Wahrnehmung. Zugleich sind Gefühle auch immer Träger von Handlungsenergie. So verkörpert Rajas in der Sankhya-Philosophie ­Leidenschaft, Bewegung und Aktivität.

      Aber Gefühle sind viel mehr. Sie sind wesentlicher Bestandteil unserer Kommunikation, notwendige Unterstützung beim Erkennen gesellschaftlicher Normen und fungieren als Impulsgeber und Motivation für spontane Reaktionen oder längerfristig angelegte Handlungen. Erst die Gefühle ermöglichen uns ein tiefes Erleben von Realität. Zugleich können sehr starke Gefühle (Cittavrittis) auch Realität vortäuschen.

      Die Fähigkeit, ein breites Spektrum unterschiedlicher Gefühle empfinden zu können, ist ein Aspekt psychischer Gesundheit. Erst wenn Gefühle häufig in einem unangebrachten Kontext auftauchen, sich nicht angemessen regulieren lassen oder eine Intensität erreichen, die durch die auslösende Situation nicht gerechtfertigt ist, muss man von psychischer Erkrankung sprechen.

      Eine wesentliche Voraussetzung für angemessenes emotionales Schwingen ist Karuna, das Mitgefühl. Mitgefühl ist die Fähigkeit, eigene Gefühle mit denen anderer in Resonanz zu bringen – wie bei einer stummen Saite eines Musikinstruments, die durch einen anderen Klang in Resonanz gebracht wird, zu schwingen beginnt und dadurch denselben Ton erklingen lässt. Dafür braucht es die Fähigkeit, eigene Gefühle, wann immer sie auftauchen, erkennen und annehmen zu können. Denn unbekannte, unterdrückte und nicht zugelassene Gefühle können nicht angemessen mitschwingen. Sie klingen entweder verzerrt und treffen so den Ton des Gegenübers nicht oder bleiben stumm. Daher fühlen wir uns ohne die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, auch in Gesellschaft anderer Menschen einsam.

      Das griechische Verb agapan, von dem sich der Begriff Agape ableitet, wird oft als »selbstlose Liebe« übersetzt. Agape beschreibt eine metaphysische Beziehung zwischen Menschen, die das Erkennen und Begleiten des anderen mit einschließt. Diese Nächstenliebe ist die höchste christliche Tugend neben Glaube und Hoffnung (1 Kor 13.13).

      In einem zentralen Abschnitt des Yogasutra empfiehlt Patanjali die beständige Praxis (Abhyasa) mit Freundlichkeit und Liebe (Maitri), Ermutigung und Mitfreude (Mudita), Geduld (Upeksha) und Mitgefühl (Karuna). Diese Qualitäten zu üben, versetze uns in die Lage, die eigene Psyche so zu beruhigen, dass wir unser wahres Wesen erkennen würden.

      Auch im Buddhismus gehören liebende Güte (Metta), Mitfreude (Mudita), Gleichmut (Upeksha) und Mitgefühl (Karuna) zu den vier Grundtugenden. Im Buddhismus werden diese Tugenden Brahmaviharas genannt, was übersetzt »die vier himmlischen Verweilzustände« bedeutet. Was für eine schöne Einladung!

      Zu den fünf Tugenden des Konfuzianismus gehört neben Rechtschaffenheit, Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit und Gegenseitigkeit auch die Liebe im Sinne mitfühlender Menschlichkeit. Damit betonen die großen Weltreligionen die grundlegende Bedeutung des Mitgefühls.

      Mitgefühl versetzt uns in die Lage, mit anderen Menschen einen transpersonalen Raum zu schaffen und zu teilen. Mit dem Jesuswort »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18.20) ist die Bewusstseinstiefe der Liebe gemeint, die auf eine auslösende Ursache oder persönliche Betroffenheit verzichtet und die Erfahrung von »Nicht-getrennt-Sein« bzw. »Heilsein« schafft. Auf diese Weise geht sie über das persönliche Erleben hinaus. Wenn wir fähig sind, uns mit dieser annehmenden Liebe zu begegnen, heilt sie vorhandene Brüche. Was vorher fragmentiert war, darf nun ganz, heil und gesund sein.

      Liebevolle Annahme jenseits von Identifikation

      Identität entsteht durch den selbstreflexiven Prozess von inneren und äußeren, aktuellen und gespeicherten Erfahrungen. Wie eine Spinne weben wir uns zwischen diesen Erfahrungen ein Netz, in dessen Zentrum wir sitzen.

      Entwickelte personale Identität besteht nicht nur aus den Inhalten unserer Erfahrung, sondern auch aus den ­Schwingungsmustern zwischen ihnen. Man könnte sagen, dass gesunde Identität pulsiert, denn Gefühle strömen in unseren emotionalen Resonanzraum, breiten sich aus und verklingen wieder. So betrachtet, bleibt Identität beweglich, frei und schwingungsfähig im Gegensatz zur Identifikation, die an den Erfahrungen festhält.

      Es ist nicht nötig, sich mit Gefühlen im Sinne von »Ich bin ängstlich« zu identifizieren, denn damit legen wir uns fest, und unsere Identität verhärtet sich. Zunehmend setzen wir uns dann aus verschiedenen Facetten wie »Ich bin mutig, friedlich, faul, feige oder wütend« zusammen.

      Wenn sich Teile dieses Selbstbildes widersprechen oder sich unsere Persönlichkeit weiterentwickelt, nehmen wir das als Konflikt wahr. Um diesen zu lösen, verleugnen wir situativ unpassende Seiten und stellen scheinbar angemessene heraus. Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich aus augenscheinlich gut funktionierenden Anteilen eine feste ­Persönlichkeit zu erschaffen. Dieser Typ mag stabiler sein als der erste, doch sein emotionaler Resonanzraum ist starr und seine Schwingungsfähigkeit vermindert.

      Im Yoga sprechen wir hier von Samyoga, der Verbindung des Sehers (Drashta, Purusha) mit dem Gesehenen und Erfahrenen (Drishya, ­Prakriti). Diese Identifikation wird als Ursache des menschlichen Leides betrachtet (Yogasutra 2.17).

      Dabei ist es durchaus möglich, eine Erfahrung wie »Ich fühle mich ängstlich« anzunehmen, ohne sich deshalb auf »Ich bin ängstlich« festlegen zu müssen. Drashta erkennt im Selbstmitgefühl die Erscheinungen von Prakriti,

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