Verkörperter Wandel. Martin Witthöft
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Die damals entstandene Sankhya-Philosophie ist eine kosmische Evolutions- und zugleich spirituelle Befreiungslehre. Um ihre Relevanz für eine zeitgemäße Yogapsychologie zu verdeutlichen, stelle ich sie hier der Entwicklungsbiologie gegenüber. Dabei werden wir sehen: Fühlen, Denken und Handeln sind unterschiedliche Facetten ein und derselben Quelle.
Sankhya-Philosophie und Entwicklungsbiologie im Vergleich
»Nach dem Tod wirst du sein, was du vor deiner Geburt warst.«
Arthur Schopenhauer
Das Sankhya ist eine der wichtigsten Lehren der indischen Philosophie. Kapila, sein Begründer, entwickelte es vor etwa 2500 Jahren. Wegen seiner nüchternen, präzisen Klarheit sollte es später zur Grundlage des Mahabharata, der Bhagawadgita sowie des Yogasutra von Patanjali werden. Auch heute noch gehört die Sankhya-Philosophie zu einem der nachhaltigsten und einflussreichsten geistigen Einflüsse des indischen Subkontinents.
Die Entwicklungsbiologie hingegen ist eine verhältnismäßig junge Wissenschaft. Ihr Anliegen ist es zu verstehen, wie sich aus nur wenigen Zellen komplexes, bewusstseinsfähiges Leben entwickelt. Sicherlich haben Menschen schon immer danach gestrebt zu entschlüsseln, wie aus der Verbindung von Mann und Frau ein neuer, ganz eigener Mensch hervorgehen kann. Die moderne Medizin hat uns zuletzt in dieser Hinsicht neue Erkenntnisse gebracht.
Sankhya und Entwicklungsbiologie verbindet auf den ersten Blick, dass sich beide mit der Entstehung des Menschen und damit eines ganzen Kosmos befassen: Wie kommt unser Bewusstsein aus dem scheinbaren Nichts in die Welt? Wie inkarniert sich die Seele in einem Körper, der es ihr ermöglicht, sich in dieser Welt zu verwirklichen? Georg Feuerstein nennt Sankhya »die Wissenschaft vom Sein« (Feuerstein 2008) – eine Beschreibung, die zweifelsohne auch auf die Entwicklungsbiologie zutrifft.
Der Schöpfungsakt
Sankhya
Sowohl Sankhya als auch Entwicklungsbiologie beginnen mit einem Blick auf den Schöpfungsakt. Im Sankhya stehen sich dabei zwei Grundprinzipien gegenüber: Purusha (»Mann, Mensch, Menschheit, Urseele«), das allgegenwärtige und ewige Bewusstsein, und sein Gegenstück Prakriti (»Materie, Natur«), die veränderliche und unbewusste Grundlage der Natur und all ihrer Erscheinungen (siehe Abb. 1).
Der Ausdruck von Prakriti entsteht aus dem Zusammenspiel dreier fundamentaler Qualitäten, der Gunas. Ihnen liegen alle materiellen und psychischen Phänomene zugrunde: Sattva, das helle, leichte und heitere Prinzip, Rajas, das stimulierende, leidenschaftliche und bewegliche Prinzip sowie Tamas, das unbewegliche, verbergende und stoffliche Prinzip. Aus ihrem Mischungsverhältnis entfaltet sich die gesamte, für uns bekannte und unbekannte Welt.
Mit seinen feinstofflichen Eigenschaften entspricht Sattva auch unserem geistigen Ausdruck, dem Bewusstsein, der Unterscheidungsfähigkeit und Vorstellungskraft. Rajas, mit seiner Leidenschaft und Hitze, verweist auf die Emotionalität, unsere Gefühle inklusive ihrer zur Handlung drängenden Energie. Die stoffliche, materielle Dimension von Tamas dagegen bezieht sich auf die Grundlage unseres Körpers wie Haut, Muskeln, Knochen und Organe.
So wie sich im Sankhya der gesamte Kosmos aus den drei Gunas und ihren verschiedenen Eigenschaften zusammensetzt, besteht auch der Mensch aus diesen drei Elementen. Dabei sind die Qualitäten der Gunas weder gut noch schlecht, sondern haben jeweils ihre eigene Aufgabe und Berechtigung im dynamischen Gleichgewicht der Kräfte.
Entwicklungsbiologie
Auch in der menschlichen Schöpfung steht die Begegnung von zwei gegenüberliegenden Polen am Anfang: des männlichen Prinzips und des weiblichen Prinzips.
Die sexuelle Vereinigung beider ermöglicht, dass sich der männliche Samen mit der weiblichen Eizelle verbindet. Bereits in den ersten 24 Stunden nach der Empfängnis beginnt daraufhin die Zellteilung in der befruchteten Eizelle.
Georg Feuerstein vergleicht die Gunas mit dem physikalischen Prinzip von Atom, Energie und Materie (Feuerstein 2008); Ralf Skuban bezeichnet sie in seinem Buch Die Psychologie des Yoga als »Schöpfungsmasse« (Skuban 2014). Mit dem Moment der Befruchtung der Eizelle entfalten die Gunas demnach ihr kreatives und zugleich hochgradig strukturiertes Potenzial.
»Es ist unmöglich, zu wahrer Individualität zu gelangen, ohne im Ganzen verwurzelt zu sein.«
David Bohm
Die Inkarnation
Sankhya
Mit dem Beginn der Aktivität der Gunas erscheint im Sankhya zunächst unser geistiges Potenzial: Bewusstsein verbindet sich mit Materie. Die verschiedenen Eigenschaften des Bewusstseins werden im Antahkarana, dem »inneren Organ«, zusammengefasst. Dazu gehören Buddhi, die Intelligenz, Ahamkara, die Fähigkeit der Identifikation, und Manas, die Fähigkeit der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens.
Entwicklungsbiologie
Auf der embryologischen Ebene öffnet sich parallel dazu das Feld der Gastrulation (von griech. gaster, »Gefäß«). Aus dem ursprünglichen Zellkern entwickeln sich drei unterschiedliche Schichten oder Keimblätter. In jeder dieser winzigen Zellschichten ist bereits das Potenzial für die Ausgestaltung unseres gesamten Körpers enthalten (siehe Abb. 2).
Auch wenn wir in diesem Stadium noch nicht von Intelligenz, Ego, Fühlen und Denken sprechen können, lässt sich doch sagen, dass hier das Feld der pränatalen Psychologie beginnt. Alles, was von nun an geschieht, kann Spuren in uns hinterlassen. Unser Denken und Fühlen sowie die Identifikation mit beidem sind jetzt zumindest angelegt. So sagte der britische Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert über die Gastrulation: »Es ist nicht die Geburt, die Hochzeit oder der Tod, sondern die Gastrulation, welche in Wirklichkeit der wichtigste Zeitpunkt in deinem Leben ist« (Wolpert 1998).
Sowohl im Sankhya als auch in der Entwicklungsbiologie entsteht aus einem dualen Gegensatzpaar etwas eigenes, unabhängiges und zunächst nonduales Drittes. Schon heute hat die Wissenschaft den materiellen Aspekt dieses Vorgangs, bestehend aus Zellteilung und der anschließenden Neuorganisation von Erbmaterial, Organzellen und Zellinhalten durch einzelne, steuernde Enzyme, im Großen und Ganzen entschlüsselt. Welche Voraussetzungen jedoch erfüllt sein müssen, damit ein Bewusstsein, unsere Seele, in den entstehenden Körper einzieht, entzieht sich bisher jeder Kenntnis.
Gegenwärtig können wir beobachten, wie auf der ganzen Welt zunehmend leistungsfähigere Computer entstehen. Gespannt wird dabei die Frage diskutiert, ob – und wenn ja, ab welchem Potenzial von Intelligenz – sich dabei eigenständiges, kreatives Bewusstsein entwickeln kann. Wann wird auf einem Display das erste kindliche, hochbegabte »Hallo – ist da jemand? Wer bin ich?« erscheinen? Doch während die Rechenleistung, zuletzt mit der Entwicklung von Quantencomputern, in kaum noch nachvollziehbare Dimensionen reicht, ist daraus bis heute kein selbstbewusstes Bewusstsein hervorgegangen.
Möglicherweise braucht es dafür die Wechselwirkung zwischen Denken und Fühlen auf der Grundlage eines sinnlich erfahrenden Körpers. Auch im Sankhya erscheint die Natur (Prakriti) immer in Gestalt aller drei Gunas, und soweit wir wissen, ist die Gastrulation mit der Entstehung der drei Keimblätter Ausgangspunkt unserer Psyche.
Bewusstsein ist sicherlich mehr als die Summe seiner Teile