Verkörperter Wandel. Martin Witthöft
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Verkörperter Wandel - Martin Witthöft страница 8
Ein fundiertes fachübergreifendes Wissen über diese somatischen, psychologischen und spirituellen Zusammenhänge kann den Yogaunterricht wesentlich bereichern. In der yogapsychologischen Praxis – sei es in Coaching, Therapie, Unterricht oder in der eigenen Sadhana – bietet diese Perspektive eine Grundlage für das ganzheitliche Verständnis von Klient*innen oder Schüler*innen.
In der Arbeit mit der prozesshaften Wechselwirkung zwischen Gefühlen, Gedanken und Körper entfaltet die integrative Yogapsychologie ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten. Sie schafft ganzheitliche Erfahrungsräume – und damit das Potenzial für Verarbeitung, Integration und Wachstum.
Integration
Das Ziel des Yoga beschreibt Patanjali gleich zu Beginn des Yogasutra:
»Yoga ist der Zustand, in dem die Bewegungen des citta (des meinenden Selbst) in eine dynamische Stille übergehen« (Sriram 2006).
Yogasutra 1.2
Wodurch aber gerät Citta aus der Ruhe? Sowohl im Sankhya als auch in der entwicklungsbiologischen Beschreibung der Keimblätter stehen unser Fühlen bzw. Denken, unser Wahrnehmen und Handeln nebeneinander. Auch wenn sie aus derselben Quelle stammen, ist ihre Verbindung untereinander verletzlich. Führt ein äußerer Einfluss dazu, dass sie gestört oder blockiert wird, fließen unser Denken bzw. Fühlen, Wahrnehmen und Handeln nicht länger aus einem gemeinsamen Zentrum. Dann erleben wir uns als fragmentiert.
Wenn unsere innere Ganzheit zerbricht, verlieren wir auch leicht den Kontakt zur äußeren Realität, das Vertrauen in ein ganzheitliches Aufgehobensein geht verloren. Das Wort Yoga kann mit »verbinden« oder »vereinigen« übersetzt werden. Die aufgebrachten Wellen unserer Psyche (Cittavrittis) kommen erst zur Ruhe, wenn unsere Seinsebenen wieder miteinander verbunden sind. Dann können wir die Identifikation mit ihnen lösen und zurückkehren zu unserer Quelle, zu unserem Selbst. So lässt sich Yoga erweitert definieren als die Lehre von der Integration unserer Lebensfelder: Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Handeln und Energie.
Dabei ist es vor allem die Fähigkeit zu achtsamem Mitgefühl jenseits beurteilender Wertung, die uns heilen lässt. Verständnis ohne Liebe bleibt immer kalt. Eine Technik ohne Kontakt lässt uns allein zurück, und eine Erfahrung ohne Beziehung bleibt frei von Bedeutung. Entwicklung beginnt mit Beziehung – sowohl im Sankhya als auch in der Biologie. Je mehr wir die Hüllen unserer Identifikationen abstreifen, umso mehr kann sich diese ursprüngliche, liebevolle Kraft offenbaren. Sie ist der Eingang und Ausgang in das bedingungslose Sein, unsere wahre Natur.
»Sind Sie im Herzen, dann wissen Sie, dass das Herz weder der Mittelpunkt noch der Umfang ist. Es gibt nichts getrennt von ihm.«
Ramana Maharshi, Sei, was du bist!
Nach dieser Fahrt auf dem zweiädrigen Strom von Philosophie und Biologie möchte ich einen Moment innehalten, um zu würdigen und zu staunen. Es ist undenkbar, dass Kapila vor 2500 Jahren oder Ishvarakrishna, der wenig später Kapilas Lehre in der Sankhya Karika zusammenfasste, ein Wissen über die Embryogenese haben konnte. Sie ist eine Entdeckung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Damit ist die Entwicklungsbiologie eine späte, unerwartete, aber auch besonders schöne Bestätigung von Kapilas Einsicht in die Ordnung des Seins.
Drei-Farben-Weiß: Das Erscheinen von Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation
»Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist …«
Arnold Beisser, Wozu brauche ich Flügel?
Purusha: Das reine Licht
Jeder der Engel, die auf meiner Schulter saßen und uns – laut meiner Tochter – stets begleiten, hatte seine eigene Farbe: Rot, Grün und Blau. In meinen Jahren als Maler hatte ich mich lange mit den Gesetzen von Farbe und Licht auseinandergesetzt. Mit der additiven Farbsynthese, einem physiologischen Vorgang zwischen Auge und Gehirn, ist es möglich, aus dem farbigen Licht der drei Primärfarben Rot, Grün und Blau jede andere Farbe zu mischen. Werden diese drei in geeigneter Helligkeit addiert, entsteht in ihrem Zentrum die Farbempfindung Weiß. Weiß ist somit die eigenschaftslose Summe, die Essenz aller Farben.
Wenn wir diese Grundfarben nun mit den Qualitäten Mitgefühl (Grün), Achtsamkeit (Blau) und Pulsation (Rot) assoziieren, steht in ihrem Zentrum, durchdrungen von Licht, unser Sein: die Grundlage unserer Existenz (Weiß), der eigenschaftslose Purusha. Im Folgenden nenne ich diesen Schnittpunkt das »Selbst«. Dieses reine Licht (puruṣa) ist die Basis all unserer emotionalen, geistigen und körperlichen Erfahrungen, die Ursache all unserer Farben, das Fundament des Bewusstseins. Eine Abbildung dazu findest du auf der vorderen Umschlaginnenseite (Abb.3).
Wenn wir die Frage stellen »Wer bin ich?«, dann erklingt in uns die primärsubstanzielle Erfahrung des »Ich bin!«. Sie ist stets in uns, gleich wie es uns geht, wie alt wir sind oder in welcher Situation wir uns befinden. Wenn wir wollen, können wir jederzeit Kontakt mit diesem beständigen, bedingungslosen Urgrund in uns aufnehmen. Es braucht nur einen Moment der Besinnung, der Stille und des Zurücksinkens in die Essenz. Wenn du dir die Frage »Wer bin ich?« stellst, dann erklingt die nonverbale Antwort »Ich bin!«, das Erleben des Seins.
Ramana Maharshi nannte diese schlichte Praxis Selbstergründung (Atma Vichara). Der Geist kehrt dabei zu seinem Ursprung zurück. Noch vor den positiven Erfahrungen unserer individuell geprägten Biografie ist dieses Sein die Basis des Urvertrauens, das warme und beständige Gefühl sicheren Eingebundenseins.
Das Farbspektrum der Welt: Purusha trifft auf Prakriti
Der erste Ausdruck des an sich eigenschaftslosen Selbst sind die Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation. Im Mitgefühl weitet sich das Selbst in unsere emotionale Dimension, in der Achtsamkeit konstituiert es sich in unserem geistigen Feld und über seine lebendig pulsierenden Wellen ist es mit der Welt und ihrer Pulsation verbunden. Trifft das reine, eigenschaftslose Licht des Purusha auf Prakriti, bricht es sich in ihr wie in einem Prisma, und das gesamte Farbspektrum der Welt beginnt sich zu entfalten.
Die integrative Yogapsychologie geht von der Annahme aus, dass die drei Qualitäten Pulsation, Mitgefühl und Achtsamkeit grundsätzlich in jedem Menschen vorhanden sind. Daher betrachte ich sie nicht als Fähigkeiten, sondern als eine Art Grundausstattung. Dabei besitzt jede dieser Qualitäten einen aktiven, erlernbaren Aspekt, der uns den Zugang zu ihr ermöglicht oder zumindest erleichtert.
Werfen wir im Folgenden einen Blick auf das Wesen dieses unmittelbaren Selbst-Ausdrucks.
Rot: Tamas, Pulsation Und Rhythmus –Die körperliche Ebene
Die Farbe Rot steht für unseren Körper. Wir erinnern uns: Prakriti, die Natur, besteht laut Sankhya aus den drei Eigenschaften Tamas, Rajas und Sattva – den Gunas. Wenn wir diese Gunas nicht als ein hierarchisches, wertendes Prinzip im Sinne von besser oder schlechter verstehen, verkörpert Tamas die Materie, das Feste, Stoffliche, unseren Körper.
Doch auch