Stumme Schreie. Martin Flesch
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Nachdem die Schikanen der Milizen nicht enden, trifft die gesamte Familie nun den Entschluss, Syrien zu verlassen.
Man entwirft zeitnah Pläne, Argumente werden abgewogen, überhastet werden Entscheidungen getroffen, die Flucht steht bevor.
In der Nacht überqueren sie die syrische Grenze, alles verläuft ohne Zwischenfälle. In den Morgenstunden kommen sie in der Türkei an. Sie sind nicht die einzigen, die dort ihre Anliegen vertreten wollen. Nach weiteren drei Wochen auf türkischem Gebiet steht fest, dass sie dort ihr Glück nicht finden werden. Seilschaften, die sich mittlerweile bildeten, offenbaren, dass man mit einem Führer, so auch die andere Bezeichnung für Schleuser, ein Boot bekommen könne, griechische Inseln seien erreichbar. Auch diese Überfahrt gelingt, sogleich sondiert man weitere Möglichkeiten, gelangt auf das Festland, mit dem Landbus nach Athen.
In Athen treffen die Familienmitglieder die Entscheidung, soweit eben möglich, nach Westeuropa weiterreisen zu wollen. Als sie – wiederum in den Nachtstunden – die weitere Route antreten, ahnen sie nur unscharf, dass ihnen weitere Unannehmlichkeiten drohen. Diese folgen sodann in Bulgarien. Dort werden sie getrennt, die Beamten kontrollieren sie, sperren sie über Nacht in verschiedene Zellen. Wiederum wird Moussa von den alten Bildern eingeholt. Nicht genug dessen, auch die Folter tritt wieder in Moussas Leben.
Des Nachts betreten vermummte Beamte die Zelle, schlagen die Insassen mit Stöcken, peinigen sie, schreien sie an und formulieren Drohungen. Auch Moussa wird geschlagen. Sogleich zieht er sich in sich selbst zurück, geht an einen anderen, inneren Ort. Während der Schläge schützt er sich, auch vor sich selbst. Die Seele bekommt neue Risse, Moussa kapselt sich ab, geht in die innere Migration, die auf ihn niedergehenden Schläge fühlt er nur mehr äußerlich, das Innerste darf nicht zu Schaden kommen, irgendwann wird man aufhören, ihn zu schlagen.
Bevor sie ihn ziehen lassen, nehmen sie noch seine Fingerabdrücke. Er weiß, was das bedeutet.
Dennoch, die Route muss beendet werden. Die Familie findet er nicht mehr, Erkundigungen bleiben zwecklos, man jagt ihn mit anderen Gleichgesinnten davon, der Weg ist vorgezeichnet. Er muss ihn weitergehen.
Anfang des Jahres 2019 gelangt Moussa, nach einer endlos scheinenden Odyssee, über Bulgarien, Kroatien und Österreich nach Deutschland. Geschlagen wurde er nicht mehr, aber Einsamkeit, Erschöpfung und Entbehrungen, Zweckgemeinschaften mit anderen Weggefährten prägen ihn auf lange Zeit.
Die Aufnahmeeinrichtung verschluckt ihn, er ist jetzt registrierter Flüchtling. Neue Kontakte entstehen, Behördengänge und Ansprechpersonen wechseln einander ab. Er erfährt, dass Betreuungspersonen zur Verfügung stehen, bleibt empfänglich für neue Strukturen. Eine anhaltende Betäubung legt sich über ihn, dumpf und teilnahmslos verbringt er die ersten Wochen. Die Zukunft, so wie erträumt, in zahlreichen Facetten ausgemalt, sie bleibt unsichtbar. Hoffnung wird zum Fremdwort.
Moussa gliedert sich ein, läuft mit, wartet ab, versteigt sich in seltsam anmutenden Tagträumen.
Die bleierne Last der Vergangenheit will nicht weichen, die Ungewissheit lauert dunkel im Hintergrund. Lebensfreude will nicht mehr aufkommen.
Die Betreuer werden auf ihn aufmerksam, er lässt sich kaum auflockern. Man empfiehlt ihm eine Vorstellung beim Arzt, der Psychiater komme wöchentlich in die Einrichtung. Moussa zweifelt, Ängste beschleichen ihn, die Sinnhaftigkeit erschließt sich ihm nicht.
Dann sucht der dennoch die Sprechstunde auf, berichtet seine Geschichte, blickt anhaltend zu Boden, nur unscharf registriert er die Realität. Ob er medikamentöse Unterstützung benötige? Er weiß es nicht, stimmt den Empfehlungen des Arztes zu, verspricht wiederzukommen und zieht sich in sich zurück.
Am Abend lärmen die Zimmernachbarn, Moussa findet keinen Schlaf. Er gesellt sich zu den Migranten des gleichen Hausflurs. Marihuana kreist in der Runde, dann ist es an ihm zuzustimmen oder abzulehnen. Er nimmt an, raucht mit, und plötzlich kommt sie doch noch über ihn, die große Ruhe, nach der er sich seit Wochen, eigentlich seit Monaten, sehnt. Er raucht mehrere Stunden und fällt dann in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Abend die gleiche Prozedur, die gleiche Runde, man trifft sich. Migranten aus den Maghreb-Staaten, von der Elfenbeinküste, aus der Ukraine, Syrien, Irak und Bosnien. Grenzen spielen plötzlich keine Rolle mehr. Die Droge verbindet, beruhigt, gibt Hoffnung – vorerst.
Nach weiteren Monaten hat sich die äußere Situation für Moussa kaum verändert. Moussas Innenleben bleibt kontrollierbar, die Seele revoltiert nicht mehr, der Cannabiskonsum gehört zu den Höhepunkten des Tages. Dass er nunmehr täglich konsumiert, seit jenem Abend auf gleichem Flur nicht mehr ohne die Drogen einschlafen kann, registriert er nicht. Termine nimmt er nicht mehr wahr, er lässt sich treiben.
Die Mitkonsumenten nehmen ihn mit in das angrenzende Stadtgebiet. Der Alkoholkonsum kommt schleichend hinzu. Man unternimmt nächtliche Streifzüge, organisiert die Sicherstellung der Konsummengen. Noch läuft alles in kontrollierten Bahnen.
Die Ruhe erweist sich als trügerisch, die zunehmende psychische Abhängigkeit von den Substanzen fordert ihren Tribut. Längst geht es nicht mehr allein um Cannabis. Auch Stimulantien wie Amphetamin und auch Kokain werden interessant. Längst gibt es kein Zurück mehr.
Am darauffolgenden Wochenende ist es soweit – mit der ganzen Wucht ihrer Möglichkeiten schlägt die Realität erneut zu. Auf dem Weg durch die Innenstadt, begleitet von den Gruppenmitgliedern, kommt es zum Konflikt. Moussa hat vorher reichlich konsumiert, läuft eigentlich nur noch mit, will zurück in die Unterkunft. Wer da wen letztlich angreift, provoziert und herausfordert, bleibt ihm unklar. Erste Schläge werden ausgeteilt, er wehrt sich, gegen wen, registriert er nicht mehr. Dann geht alles sehr schnell, der Gruppenkonflikt eskaliert. Plötzlich steht die Polizei auf dem Platz, die Gruppen werden getrennt, es gibt Festnahmen. Moussa ist auch dabei. Er befindet sich noch im Rauscherleben, kaum orientiert, wehrt sich noch gegen die Polizisten, lässt sich dann abführen, wird fixiert. Die Nacht verbringt er in der Ausnüchterungszelle. Dann führt man ihm dem Haftrichter vor.
Dieses Szenario kommt ihm bekannt vor, die Vergangenheit hat ihn erneut eingeholt. Der Haftrichter spricht von schwerer Körperverletzung. Er kennt sich nicht aus, weiß nichts zu berichten, lässt alles über sich ergehen, will einen Rechtsanwalt kontaktieren.
Die Untersuchungshaft scheint, im Vergleich mit den bisher erlittenen Haftbedingungen, den Entführungen, der Folter in Syrien und den Schlägen in Bulgarien, noch einigermaßen erträglich. Man arrangiert sich. Moussa entwickelt psychische Entzugserscheinungen. Ohne Droge kann er nicht mehr schlafen. Er weiß, was in solchen Situationen zu tun ist. Er zieht sich zurück, geht wiederum in die innere Migration, diesmal gänzlich. Die Mitgefangenen sorgen sich, melden die Sachlage, Moussa wird psychiatrisch untersucht. Er findet sich schließlich in der psychiatrischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt wieder. Wiederum erzählt er seine Geschichte, wird medikamentös behandelt. Der Psychiater, später auch der Gutachter, sagen etwas von Trauma oder Traumatisierung. Ob er Therapie machen wolle? Er kann es sich vorstellen, äußert sich halbherzig. Er fügt sich. Nach drei Wochen kehrt er in seine Zelle zurück.
Vier Monate später findet die Hauptverhandlung seines Verfahrens vor dem Amtsgericht statt. Der