Stumme Schreie. Martin Flesch

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Stumme Schreie - Martin Flesch

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Kompromisse …!“

       Rupert Neudeck, 2015 1

      Die blühenden Haine der Kindheit liegen noch sehnsuchtsvoll im Gedächtnis. Die Kindheit verlief geborgen. In Raqua, in Syrien, wird Moussa im Mai 1998 als ältester Sohn geboren. Der 25-jährige Vater arbeitet für ein Fuhrunternehmen, die 20-jährige Mutter, die bis dahin keinen Beruf erlernte, plant eine große Familie. Sechs weitere Geschwister werden folgen, das jüngste Kind wird 2015 geboren werden.

      Heute leben die Familienmitglieder verstreut in Griechenland, Kroatien, Österreich und Deutschland.

      Im Jahr 1998, Ende des Jahrtausends, sind die Verhältnisse in Syrien noch in Ordnung, zumindest weitestgehend. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wächst Moussa wohlbehütet auf, erlebt in Fürsorge und Wandel die Vergrößerung seiner Familie. Die ersten Schuljahre verlaufen unkompliziert, das Lernen fällt ihm leicht, Freunde gibt es reichlich, die Welt und das Leben fühlen sich stimmig und abgerundet an. Eine unbeschwerte Jugend kündigt sich an.

      Erste Herausforderungen folgen. Freundschaften werden geschlossen, Jugendbanden bilden sich, erproben sich in der aufkeimenden Männlichkeit, Rivalen werden besiegt oder man fügt sich der Konkurrenz. Moussa ist jetzt 13 Jahre alt.

      Die Jugendlichen, welche sich die letzten Tage wiederholt im Dorf aufhalten, fallen dem Jungen auf. Er wird angesprochen, denkt sich nichts, auch die Freunde werden kontaktiert. Man geht zur Tagesordnung über.

      Dann kommt der Tag, der Moussas Leben von Grund auf verändern wird. Später berichtet er dem psychiatrischen Gutachter in der Justizvollzugsanstalt vor seinem Gerichtsverfahren, ab diesem Zeitpunkt sei seine Seele „stückweise gebrochen“ worden.

      Doch der Reihe nach. An diesem Morgen im Jahr 2012 geht Moussa in den nahegelegenen Supermarkt des Dorfes. Nach dem Einkauf, noch auf dem anliegenden Parkplatz, treten die jungen Männer an ihn heran. Einige erkennt er noch, es sind die gleichen Personen, die ihn im Dorf angesprochen haben.

      Sie sprechen ihn kaum an, bedrängen ihn, machen sich einen Spaß aus seiner Angst. Zu Hause berichtet er nichts von dem Vorfall, er schämt sich und ängstigt sich zugleich. Die Eltern haben andere Sorgen.

      Wenige Tage später ereignet sich das gleiche Szenerio, Moussa hofft, sie würden nicht mehr in Erscheinung treten, aber er irrt sich.

      Sie bedrängen ihn erneut, in diesem Fall geht es nicht glimpflich aus. Sie nehmen ihn mit, zwingen ihn in ein Auto, er sieht nichts mehr. An einem ihm unbekannten Ort halten sie an, er erkennt eine verfallene Lagerhalle. Sie setzen ihn auf einen Stuhl, binden ihn fest. Jetzt erkennt er die Gruppe besser, es sind Männer, zwischen zehn und 15 an der Zahl. Einige schätzt er auf 20 bis 25 Jahre, einige sind älter, manche wohl auch über 40 Jahre alt. Sie fixieren seinen Arm, stauen ihm die Venen und applizieren ihm eine Spritze unbekannten Inhaltes. Die Substanz wirkt rasch, eine Benommenheit bemächtigt sich seiner, er wird schläfrig, verliert aber nicht das Bewusstsein.

      Dann schlagen sie ihn, auf Arme, Beine und gegen die Schultern, dann auch ins Gesicht. Immer wieder hört er die Worte:

      „Wenn Du nicht mitmachst, vergewaltigen wir Deine jüngere Schwester!“

      Er fügt sich. Dann vergewaltigen sie ihn, drohen ihm, vergewaltigen ihn wieder.

      Seine Seele bricht, aber sie zerbricht nicht. Moussa bewahrt sich den Überlebenswillen und den innersten Kern seines Seins.

      Zu einem späteren Zeitpunkt, kurz vor seiner Flucht, wird Moussa dann erkennen, dass die Tätergruppe ihm wohl wiederholt Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und auch Drogen verabreicht haben müsse. Er hört auch von anderen Betroffenen, dass diese in vergleichbaren Fällen Opium, Cannabis und Heroin appliziert bekommen hätten, auch möglicherweise andere Drogen. Durch die zahlreichen Applikationen sei höchstwahrscheinlich die Basis für die spätere Drogenabhängigkeit entstanden, so argumentiert er gegenüber dem Gutachter später in der Justizvollzugsanstalt. Diese Zusammenhänge benennt er erst in Deutschland, als es schon zu spät ist.

      Das grausame Prozedere wiederholt sich. Mehrfach, über Wochen, wird er abgeholt, festgebunden, gefoltert, freigelassen, unter stets aufrechterhaltenen Drohungen. Er kann nicht reden, kann sich niemandem in der Familie mitteilen, Moussa verstummt.

      Schließlich fliegt die Gruppe auf, Freunde der Eltern kommen hinter die Strukturen der von der Gruppierung „Islamischer Staat“ (IS) angeheuerten Männer. Vorerst ist das Grauen zu Ende. Aber nur auf eine Weise.

      Nunmehr wird Moussa von Vorwürfen überhäuft. Der Vater schimpft, droht ihm, wertet ihn ab, demütigt ihn. Der Vater lässt ihn unaufhörlich wissen, dass Moussa ihn entehrt habe. Er habe nun einen missbrauchten Sohn, wie er das habe zulassen können, wieso er sich nicht an ihn gewandt habe? Es sei eine Schande für die Familie.

      Der Vater zeigt den Sachverhalt an, bei der zuständigen Polizeibehörde, die auch die politische Richtung des Landes unterstützt. Man merkt sich die Familie, ihren Namen, ihre Struktur.

      Dann ändern sich die politischen Verhältnisse. Der IS nähert sich Raqua, es kommt zur feindlichen Übernahme. Nachdem sich auch die örtlichen und kommunalen Verhältnisse den neuen Machthabern angepasst haben, läuft auch die Polizeibehörde über. Jetzt herrschen andere Strukturen. Die Polizeibeamten, welche damals die Anzeige der Familie aufnahmen, erinnern sich an den Vorfall.

      Nur ein Jahr nach dem Ende der ersten Tortur setzt sich der Alptraum in Moussas Leben fort. Die Männer des IS suchen regelmäßig die Dörfer auf. Man kommt auch in sein Elternhaus, führt Gespräche, sieht sich um. Man wird auf ihn aufmerksam.

      Eines Morgens erscheinen die Männer des IS erneut, diesmal vermummt. Unter Androhung von Waffengewalt holen sie ihn aus dem Haus und nehmen ihn mit. Den Ort, an den er jetzt gebracht wird, kennt er bereits. Diesmal vergewaltigen sie ihn nicht, sie agieren jetzt über andere Wege, die sind weitaus folgenreicher. Sie werfen ihm schließlich vor, er sei ein Ungläubiger, habe den Propheten beleidigt. Dann werfen sie ihm eine Kapuze über und verschleppen ihn in das jüngst eröffnete IS-Gefängnis der Region.

      Weitere 80 Tage verbringt Moussa in einer Zelle mit neun anderen Gefangenen. Nunmehr erscheinen die Peiniger täglich und schlagen ihn und die anderen Häftlinge mit Gummischläuchen, auch wenn Moussa stets beteuert, die ihm vorgeworfenen Verfehlungen nie begangen zu haben.

      Der Höhepunkt der Tortur wird noch folgen. Mehrere Männer holen ihn aus der Zelle, stellen sich vor ihm auf, nachdem sie ihm eine Augenbinde umgebunden haben. Das Geräusch einer durchladenden Feuerwaffe wird Moussa ab diesem Zeitpunkt nie mehr vergessen. Einer der Männer hantiert mehrfach mit der Waffe, hält sie ihm an den Kopf und drückt mehrfach ab. Dabei habe er immer wieder sagen müssen, dass er den Propheten nicht beleidigt habe. Später erinnert sich Moussa nicht mehr an die Anzahl der einzelnen Durchgänge.

      Und dann ist die Tortur plötzlich zu Ende, sie lassen ihn frei und jagen ihn davon. Da befindet sich Syrien bereits mitten im Bürgerkrieg.

      Zurückgekehrt in das häusliche Milieu, folgt nun der dritte Teil der seelischen Folter. Die Bombenangriffe haben auch Raqua erreicht. Jahre später berichtet Moussa dem Gutachter, die Bomber der Allianz des Präsidenten von Syrien hätten zu diesem Zeitpunkt tagsüber und auch über Nacht Angriffe geflogen, er habe schätzungsweise vor seiner Flucht über 70 Angriffe erlebt, aber eher und wahrscheinlicher seien es doch mindestens 100 Angriffe gewesen, er habe nicht mehr zählen können.

      Der Kontakt mit dem Tod wird alltäglich. Fliegerangriffe auf der einen Seite, Selbstjustiz durch den IS auf der anderen Seite. Öffentliche Enthauptungen

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