Das Licht und der Bär. Rudolf Alexander Mayr
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Als der letzte Kranke den Platz verlassen hatte, ging ich zu Wolfi in ein nahe gelegenes Bauernhaus hinauf, und wir beschlossen, die kommende Nacht abermals auf der Terrasse des Hauses auf Reismatten zu verbringen. Denn Flöhe und Wanzen hatten wir ohnehin schon ausgefasst. Als nach dem Abendessen das letzte Licht an den Vorgipfeln des Dhaulagiri verschwunden war, summten wir vergnügt den Cancan, genehmigten uns vor dem Eintreffen unserer Quälgeister einen blauen Bomber und spülten ihn mit Whisky hinunter. Wir schliefen vorzüglich und ohne Nebenwirkungen, doch am nächsten Morgen stellten wir fest, dass auch unsere kleinen Mitbewohner Gefallen am Geschmack von Whisky gefunden haben mussten, denn besonders Wolfis Bauch war noch geröteter und zerstochener als in den Tagen vorher. Anderntags stiegen wir das Myagdi Khola weiter hinauf und hinein und erreichten schließlich das Basislager des Dhaulagiri. Wir waren von Phokara bis hierher dreizehn Tage unterwegs gewesen.
Expeditionsarzt Franz „Schurli“ Rhomberg im Einsatz.
Man konnte sich den Ort kaum trostloser vorstellen. Der Gletscher war schuttbedeckt, und weit und breit konnten wir keinen Graspolster entdecken. Aus dem Myagdi Khola pfiff ein eiskalter Wind herauf. Doch wir hatten nur den Berg im Auge und planierten ein jeder für sich einen ebenen Platz für sein Basislagerzelt und waren vergnügt und voller Vorfreude. Einer von uns sagte gar mit keckem Blick in Richtung des Gipfels und im breitesten Südtirolerisch: „Den Zapfn do oben, den reiß ma mit links nieda!“ Wie vorhergesehen, hatten hier mittlerweile auch die Wanzen und Flöhe ihren Geist aufgegeben.
In den folgenden Tagen und Wochen stiegen wir nun am Berg auf und nieder und hatten die üblichen Vorkommnisse, wie man sie aus der Expeditionsliteratur kennt: die eine oder andere Magenverstimmung, kleinere Erfrierungen, hin und wieder einen Lawinenabgang. Einer unserer beiden Sherpas fiel dreißig Meter in eine Spalte und beleidigte sich die Bandscheiben und Rippen, wie übrigens auch der zweite, der ihn sicherte. Die derart spaltengeschädigten Sherpas weigerten sich nun, noch einmal weiter als bis zum Nordostcol auf fünftausendsechshundert Metern aufzusteigen, und von da an hörten wir die Worte „Den Zapfn reiß ma mit links nieda!“ immer seltener.
Zu diesem Zeitpunkt waren Wolfi und ich wieder einmal in Lager zwei im ungemein steilen Nordostsporn angelangt. Es lag auf etwa sechstausendsiebenhundert Metern und war in einer Spalte untergebracht, die sich für fünfzig oder achtzig Meter horizontal durch den Sporn zog und vorne und hinten offen war und daher gut belüftet war, was uns das heimelige Gefühl bescherte, in einem Windkanal zu schlafen. Aber immerhin waren wir hier vor Lawinen sicher.
Müde von der vielstündigen Spurarbeit, entfachten wir unseren Gaskocher und bemühten uns zwei Stunden lang, eine kleine Dose mit Hummersuppe aufzutauen. Wir waren noch im Sturmanzug, hatten die Steigeisen an den Schuhen und starrten wie hypnotisiert in die kleine Gasflamme, die vollkommen kraftlos gegen die vereiste Dose, den schneidenden Nordwind und die Sauerstoffarmut ankämpfte. Nachdem wir in den letzten Tagen immer klaglos und ohne Nebenwirkungen den blauen Bomber genossen hatten, fand ich es ganz natürlich, auch jetzt eine dieser magischen Schlafpillen aus der Packung zu drücken und zu schlucken. Wolfi tat es mir nach.
Ich erwachte am nächsten Morgen durch das spärliche Licht, das in unsere Spalte fiel, und die Kälte, die in den Schlafsack kroch. Die Hummersuppe stand noch am gleichen Platz, nur die Gaskartusche war leer. Wolfi sah mich prüfend an und richtete sich im Schlafsack auf. Er wechselte die leere Kartusche gegen eine volle und entzündete den Brennerkopf.
„Gestern habe ich einen schönen Stress mit dir gehabt“, sagte er dann und lächelte.
„Stress? Was für Stress?“ Ich war völlig ahnungslos.
„Du hast den blauen Bomber genommen und warst kurz darauf bewusstlos!“
„Was? Du hast ihn doch auch genommen!“
„Bei mir hat er nicht gewirkt. Bin die halbe Nacht wach gelegen.“
„Wach gelegen?“
„Na, nicht ganz. Hatte schon einiges zu tun!“
„Was zu tun?“
„Du warst quasi bewusstlos. Du hattest noch die Steigeisen an und den Sturmanzug. Hab’ volle zwei Stunden gebraucht, dir das alles auszuziehen und dich in den Schlafsack zu bringen!“
Erst lange nach der Expedition kam uns der Gedanke, dass man uns vermutlich abwechselnd ein Placebo und einen wirklichen Bomber in die Verpackung fabriziert hatte (wirklich dahinter gekommen sind wir nie, und ich will’s auch gar nicht mehr wissen).
An diesem Tag stiegen wir den steilen Nordostsporn höher. Wolfi trug das Sturmzelt für das letzte Lager und ich die Seilrolle für die steilsten Stellen. Ab einer Höhe von etwa siebentausend bis siebentausenddreihundert Metern fixierten wir ein Seil. In dieser Höhe bei schlechten Verhältnissen den dritten oder sogar vierten Schwierigkeitsgrad zu klettern, fiel uns nicht gerade leicht, aber wir stiegen weiter bis auf siebentausendsechshundert Meter, deponierten das Sturmzelt und fixierten es gegen den Sturm mit einem Felshaken. (Einige Tage vor uns hatten sich unsere Gefährten, recht berühmte Burschen, in diesen Seillängen ganz schön die Zähne ausgebissen).
Bei stärker werdendem Sturm stiegen wir ab. (Ich habe mir bei dieser Gelegenheit die linke Wange erfroren. Zehn Tage später konnte ich den schwarzen Schorf wie die Panier eines Wienerschnitzels herunterschälen.) Wir stiegen gleich über unser zweites Hochlager weiter nach unten und waren wieder im Lager auf sechstausend Metern angekommen. Dann stiegen wir weiter ab. Wolfi war hinter mir und sicherte mich am gespannten Seil.
Plötzlich blieben wir stehen. In Momenten der Gefahr reagieren eingeschworene Seilschaften oft gleich. Der Steilhang unter mir war unheilschwanger. Es war, als hätten wir das Unheil riechen können. Ich tat den ersten Schritt. Da zerriss ein Knall wie von einem Peitschenhieb den lautlosen Raum und eine riesige Lawine brach unter meinen Füßen los. Ich hätte den Halt verloren, wenn mich Wolfi nicht in der gleichen Sekunde am straffen Seil gehalten hätte, und alles war so selbstverständlich, als sei es unser ganzes Leben nicht anders gewesen. Wir sahen der riesigen Lawine zu, wie sie sich über den Nordostcol ergoss. Ich hing im Seil über dem fast zwei Meter hohen Anriss der Lawine, Wolfi stand zwanzig Meter über mir und hielt das Seil. Wir verloren kein Wort und stiegen weiter ab.
Bald wurde die Luft spürbar dicker. Im nächsten Lager angekommen, kochten wir uns ein Abendessen und nahmen einen blauen Bomber zum Nachtisch. Ich wälzte mich schlaflos hin und her und beschloss, an meinem Tagebuch zu schreiben, während Wolfi schon lange schlief. Er schnarchte leise, und ich konnte deutlich vernehmen, dass er völlig ausgetrocknet war. So stupfte ich ihn vorsichtig in seinem Schlafsack. Ein Stöhnen.
„Wolfi“, sagte ich. „Bist du durstig?“ Wieder ein leises Stöhnen.
Ich rüttelte ihn an der Schulter. Endlich wachte er auf, richtete sich im Schlafsack auf, und ich reichte ihm einen Becher Tee aus der Thermosflasche. Er nahm mit beiden Händen den Becher und trank vorsichtig daraus. Dann sagte er: „Der ist aber heiß, der Tschang!“ Hoppala, dachte