Das Zeichen der Vier. Sir Arthur Conan Doyle
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Читать онлайн книгу Das Zeichen der Vier - Sir Arthur Conan Doyle страница 5
»Aber wird er denn auch mitkommen?« fragte sie mit süßem Bitten in ihrer Stimme und in ihrem Blick.
»Ich bin stolz und glücklich, Ihnen einen Dienst erweisen zu dürfen!« rief ich feurig.
»Sie sind beide sehr liebenswürdig«, sagte sie. »Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt, und ich habe keine Freunde, an die ich mich wenden könnte. Wenn ich um sechs Uhr wieder hier bin, ist das rechtzeitig genug?«
»Ja, aber nicht später«, antwortete Holmes. »Nur noch eine Frage: Ist diese Handschrift die gleiche wie die der Adressen auf den Perlenpäckchen?«
»Ich habe sie mitgebracht«, antwortete sie und kramte ein halbes Dutzend Zettel hervor.
»Sie sind wirklich eine musterhafte Klientin. Sie haben einen sicheren Instinkt. Lassen Sie sehen!« Er breitete die Papiere auf dem Tisch aus, und sein rascher, scharfer Blick wanderte von einem zum anderen. »Die Handschrift ist verstellt, ausgenommen in dem Brief«, sagte er dann, »aber es steht außer Frage, dass alles von der selben Hand geschrieben wurde. Sehen Sie, wie das griechische ›e‹ sich hartnäckig behauptet, und den kleinen Schnörkel beim ›s‹ am Wortende. Diese Schriftstücke stammen unzweifelhaft von ein und derselben Person. Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Mrs Morstan, aber besteht eine Ähnlichkeit zwischen dieser Handschrift und der Ihres Vaters?«
»Nicht die geringste.«
»Das dachte ich mir. Wir erwarten Sie dann hier um sechs Uhr. Bitte erlauben Sie mir, diese Papiere vorerst hier zu behalten. Vielleicht möchte ich sie mir vor unserem Treffen noch einmal ansehen. Jetzt ist es erst halb vier. Also dann, au revoir.«
»Au revoir«, erwiderte unsere Besucherin, schenkte jedem von uns einen freundlichen, strahlenden Blick, barg das Etui mit den Perlen wieder in ihrem Busen und eilte davon.
Ich trat ans Fenster und blickte ihr nach, wie sie raschen Schrittes die Straße hinunterging, bis das graue Hütchen mit der weißen Feder nur noch ein Punkt in der dunklen Menge war.
»Welch überaus reizende junge Frau!« rief ich, als ich mich wieder zu meinem Gefährten umwandte.
Der hatte seine Pfeife wieder angezündet und lehnte mit halb geschlossenen Augen im Sessel.
»So?« meinte er unbeteiligt, »das ist mir nicht aufgefallen.«
»Sie sind wirklich ein Automat – eine Rechenmaschine!« rief ich. »Zuweilen haben Sie etwas entschieden Unmenschliches an sich.«
Er lächelte nachsichtig.
»Es ist von allergrößter Bedeutung«, sagte er dann, »sein Urteil niemals von persönlichen Eigenschaften einer Person beeinflussen zu lassen. Für mich ist ein Klient stets ein neutrales Wesen, eine mathematische Größe in einem Problem. Jede Art von Gefühl steht im Widerspruch zum klaren Denken. Ich kann Ihnen versichern, dass die anziehendste Frau, die ich je gesehen habe, am Galgen endete, weil sie ihre drei kleinen Kinder vergiftet hatte, um die Lebensversicherung einzustreichen, und der äußerlich abstoßendste Mann, den ich kenne, ist ein Philanthrop, der beinahe eine Viertelmillion für die Londoner Armen gespendet hat.«
»Aber in diesem Fall –«
»Ich mache nie eine Ausnahme. Ausnahmen entkräften die Regel. Hatten Sie jemals Gelegenheit, den Charakter eines Menschen aus seiner Handschrift abzuleiten? Was meinen Sie über das Geschreibsel dieses Burschen?«
»Die Schrift ist regelmäßig und gut leserlich«, antwortete ich. »Vielleicht ein Geschäftsmann, ein Mann mit starker Persönlichkeit.«
Holmes schüttelte den Kopf.
»Beachten Sie die Oberlängen«, sagte er. »Sie reichen kaum über die Mitte hinaus. Dieses ›d‹ hier könnte auch ein ›a‹ sein, und dieses ›l‹ ein ›e‹. Charakterstarke Menschen neigen immer zu deutlichen Oberlängen, wie unleserlich ihre Schrift sonst auch sein mag. Seine ›k‹s verraten Unentschiedenheit, und seine Großbuchstaben Selbstgefälligkeit. Ich werde jetzt ausgehen, ich möchte noch ein paar Auskünfte einholen. Derweil darf ich Ihnen dieses Buch empfehlen – eine der bemerkenswertesten Abhandlungen, die je geschrieben wurden: Winwood Reades Martyrium der Menschheit. In einer Stunde bin ich wieder da.«
So saß ich an dem kleinen Erkerfenster, das Buch in der Hand, aber in Gedanken weit von den kühnen Spekulationen des Autors entfernt. Meine Gedanken galten unserer Besucherin – ihrem Lächeln, dem warmen, vollen Klang ihrer Stimme und dem sonderbaren Geheimnis, das ihr Leben überschattete. Wenn sie siebzehn Jahre alt war, als ihr Vater verschwand, musste sie jetzt siebenundzwanzig sein – ein schönes Alter, in dem man die Befangenheit der Jugend abgelegt hat und durch Erfahrung reifer geworden ist. Ich saß und sann, bis mir schließlich so gefährliche Gedanken in den Kopf kamen, dass ich aufsprang und an meinen Schreibtisch eilte, um mich in den neuesten Artikel zur Pathologie zu vertiefen. Wer war ich denn – ein Militärarzt mit einem schwachen Bein und einem noch schwächeren Bankkonto! Wie konnte ich es wagen, an solche Dinge auch nur zu denken? Sie war eine mathematische Größe in einem Problem – weiter nichts. Wenn meine Zukunft düster aussah, dann war es auf alle Fälle besser, sich ihr wie ein Mann zu stellen statt zu versuchen, sie durch phantastische Irrlichter aufzuhellen.
3. KAPITEL
Auf der Suche nach einer Lösung
Es war bereits halb sechs, als Holmes zurückkam. Er war beschwingt, voller Energie und in vortrefflicher Laune, eine Stimmung, die bei ihm mit Anfällen schwärzester Depression wechselte.
»Da ist nichts besonders Mysteriöses in dieser Angelegenheit«, sagte er, während er den Tee trank, den ich ihm eingegossen hatte. »Die Fakten scheinen nur eine einzige Erklärung zuzulassen.«
»Was! Sie haben die Lösung schon gefunden?«
»Das wäre zu viel gesagt. Ich habe einen vielversprechenden Hinweis gefunden, das ist alles. Aber er ist sehr vielversprechend. Allerdings fehlen noch die Details. Ich habe die alten Jahrgänge der Times durchgesehen und herausgefunden, dass Major Sholto aus Upper Norwood, ehemals 34th Bombay Infantery, am 28. April 1882 verstorben ist.«
»Ich mag ja arg begriffsstutzig sein, Holmes, aber ich kann nicht erkennen, was daran vielversprechend ist.«
»Nicht? Das wundert mich. Betrachten Sie die Sache doch einmal so: Captain Morstan verschwindet. Die einzige Person in London, die er aufgesucht haben kann, ist Major Sholto. Major Sholto bestreitet, von Morstans Anwesenheit in London gewusst zu haben. Vier Jahre später stirbt Sholto. Eine Woche nach seinem Tod erhält Captain Morstans Tochter ein wertvolles Geschenk, was sich seither Jahr für Jahr wiederholt und nun darin gipfelt, dass sie einen Brief bekommt, in dem gesagt wird, ihr sei Unrecht geschehen. Welches andere Unrecht kann damit gemeint sein, als dass ihr der Vater genommen wurde? Und warum sollten die Geschenksendungen unmittelbar nach Sholtos Tod einsetzen, wenn nicht aus dem Grund, dass Sholtos Erbe etwas über das Geheimnis weiß und den Wunsch nach Wiedergutmachung hat? Oder haben Sie vielleicht eine andere Theorie, die sich mit den Fakten deckt?«
»Aber was für eine absonderliche Art der Wiedergutmachung! Und wie absonderlich arrangiert! Weshalb sollte er denn erst jetzt diesen Brief schreiben und nicht schon vor sechs Jahren? Außerdem schreibt er, dass sie zu ihrem Recht kommen soll. Welches Recht ist damit gemeint? Man darf doch kaum annehmen, dass ihr Vater noch lebt. Und von einem anderen Unrecht wissen wir in ihrem Fall nichts.«
»Es