Das Zeichen der Vier. Sir Arthur Conan Doyle
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Читать онлайн книгу Das Zeichen der Vier - Sir Arthur Conan Doyle страница 6
Ich griff nach meinem Hut und nach meinem schwersten Stock, wobei mir nicht entging, dass Holmes seinen Revolver aus der Schublade holte und ihn in seine Manteltasche gleiten ließ. Offenbar rechnete er damit, dass es bei unserem nächtlichen Vorhaben lebhaft zugehen könnte.
Miss Morstan war in ein dunkles Cape gehüllt; ihr empfindsames Gesicht wirkte gefasst, aber blass. Sie hätte kein Weib sein müssen, wenn sie angesichts der seltsamen Unternehmung, zu der wir aufbrachen, kein tiefes Unbehagen empfunden hätte, aber sie bewies vollkommene Selbstbeherrschung und antwortete bereitwillig auf einige zusätzliche Fragen, die Sherlock Holmes ihr stellte.
»Major Sholto war ein vertrauter Freund von Papa«, sagte sie. »In seinen Briefen hat er den Major häufig erwähnt. Er und Papa hatten das Kommando über die Truppen auf den Andamanen, dadurch verbrachten sie viel Zeit miteinander. Ach, übrigens – in Papas Schreibtisch wurde ein merkwürdiger Zettel gefunden, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Ich glaube zwar nicht, dass er wichtig ist, aber ich dachte, Sie würden ihn vielleicht gern sehen wollen, deshalb habe ihn mitgebracht. Hier ist er.«
Holmes entfaltete den Zettel behutsam und strich ihn auf seinem Knie glatt. Dann inspizierte er ihn sorgfältig und methodisch mit seinem Vergrößerungsglas.
»Das Papier ist ein indisches Fabrikat«, sagte er. »Es war eine Zeitlang mit Nadeln auf einem Holzbrett festgesteckt. Die Zeichnung zeigt offenbar den Grundriss eines Gebäudeteils – eines sehr großen Bauwerks mit zahlreichen Räumen, Gängen und Korridoren. An einer Stelle ist mit roter Tinte ein kleines Kreuz eingezeichnet, darüber steht in verblasster Bleistiftschrift ›3,37 von links‹. In der linken Ecke ist eine eigenartige Hieroglyphe zu sehen: vier Kreuze nebeneinander, deren Balken sich berühren. Daneben steht in grober, ungelenker Handschrift: ›Das Zeichen der Vier – Jonathan Small, Mahomet Singh, Abdullah Khan, Dost Akbar‹. Nein, ich gebe zu, da sehe ich keinen Zusammenhang mit unserer Angelegenheit. Trotzdem ist das Dokument offenkundig von Bedeutung. Es wurde sorgsam in einer Brieftasche aufbewahrt, denn keine der beiden Seiten ist vergilbt.«
»In seiner Brieftasche haben wir es gefunden.«
»Bewahren Sie es gut auf, Miss Morstan, es wird uns vielleicht noch von Nutzen sein. Ich beginne zu vermuten, dass dieser Fall sich als wesentlich diffiziler und hintergründiger erweisen könnte, als ich zunächst gedacht hatte. Das muss ich neu überdenken.«
Er lehnte sich in die Wagenpolster zurück, und ich sah an seinen zusammengezogenen Brauen und seinem abwesenden Blick, dass er scharf nachdachte. Miss Morstan und ich unterhielten uns mit gedämpfter Stimme über unsere nächtliche Unternehmung und was sie wohl bringen würde, unser Gefährte dagegen verharrte bis zum Ende der Fahrt in undurchdringlichem Schweigen.
Es war ein Septemberabend und noch nicht einmal sieben Uhr, aber es war ein trüber Tag gewesen, und jetzt lag ein dicker, nasser Nebel über der großen Stadt. Schmutzigfarbene Wolken hingen trist über schmutzigen Straßen. Die Laternen rechts und links des Strand waren zu matten, diffusen Punkten geschrumpft, welche schwache Lichtkreise auf das nasse Pflaster warfen. Aus den Schaufenstern der Geschäfte strömte helles Licht in die dunstige Nebelluft hinaus und zeichnete trübe, rasch wechselnde Muster auf die von vielen Menschen belebte Straße. Es hatte etwas Unheimliches, fast Gespenstisches, diese endlose Prozession von Gesichtern durch diese schmalen Lichtstreifen huschen zu sehen – traurige und frohe, verhärmte und heitere. Sie glitten aus dem Dunkel ins Licht und wieder zurück ins Dunkel, wie es der Menschen Los ist. Ich bin sonst nicht leicht Stimmungen unterworfen, aber dieser trübe, dunkle Abend, verbunden mit dem geheimnisvollen Abenteuer, auf das wir uns eingelassen hatten, machte mich nervös und bedrückt. Miss Morstan war unschwer anzusehen, dass sie das Gleiche empfand. Nur Holmes war über solche flüchtigen Eindrücke erhaben. Er hielt ein aufgeschlagenes Notizbuch auf den Knien, in das er im Licht seiner Taschenlampe ab und zu Ziffern und Notizen eintrug.
An den Seiteneingängen des Lyceum Theatre standen die Menschen bereits dicht gedrängt. Vor dem Haupteingang fuhren in dichter Folge zwei- und vierrädrige Wagen vor, denen Herren mit steifer Hemdbrust und in Shawls gehüllte, diamantenbehängte Damen entstiegen. Wir hatten die dritte Säule, den Ort unseres Stelldicheins, kaum erreicht, da wurden wir von einem klein gewachsenen, kräftigen dunkelhaarigen Mann in Kutscherkleidung angesprochen.
»Sind Sie die Herrschaften, die Miss Morstan begleiten?« fragte er.
»Ich bin Miss Morstan, und diese beiden Gentlemen sind meine Freunde«, antwortete sie.
Zwei seltsam durchdringende Augen musterten uns mit scharfem Blick.
»Sie müssen schon entschuldigen, Miss«, sagte er mit störrischer Miene. »Aber ich habe Anweisung, mir Ihr Wort geben zu lassen, dass keiner Ihrer Begleiter von der Polizei ist.«
»Darauf kann ich Ihnen mein Wort geben«, lautete ihre Antwort.
Er ließ einen scharfen Pfiff ertönen, woraufhin ein Gassenjunge eine Kutsche heranführte und den Schlag öffnete. Der Mann, der uns angesprochen hatte, schwang sich auf den Bock, während wir unsere Plätze im Wageninnern einnahmen. Wir saßen kaum, da ließ der Kutscher die Peitsche auf dem Rücken des Pferdes spielen, und los ging die rasche Fahrt durch die nebeltrüben Straßen.
Es war eine eigentümliche Situation. Wir fuhren mit unbekanntem Auftrag einem unbekannten Ziel entgegen. Entweder war diese Einladung nichts als ein schlechter Scherz – was als Hypothese kaum haltbar war –, oder wir hatten Grund anzunehmen, dass unsere Expedition wichtige Enthüllungen bringen würde. Miss Morstans Haltung blieb entschlossen und gefasst wie zuvor. Ich versuchte zwar, sie durch Erzählungen von meinen afghanischen Abenteuern abzulenken und ein wenig aufzuheitern, aber ehrlich gesagt war ich selbst in dieser Situation so aufgeregt und so gespannt auf die Dinge, die auf uns zukamen, dass meine Darstellung gelegentlich etwas durcheinander geriet. Noch heute behauptet sie, ich hätte ihr eine ergreifende Anekdote erzählt, wie mitten in der Nacht eine Muskete in mein Zelt geschaut hätte und ich ein doppelläufiges Tigerjunges darauf abgefeuert hätte. Zunächst war ich noch in der Lage, einigermaßen die Richtung zu verfolgen, in die wir fuhren, aber schon bald – kein Wunder bei der Schnelligkeit der Fahrt, bei dem Nebel und bei meiner beschränkten Kenntnis von London – hatte ich die Orientierung gänzlich verloren und bemerkte nur noch, dass die Strecke, die wir zurücklegten, offenbar sehr lang war. Sherlock Holmes hingegen war keinen Moment im Zweifel. Während die Kutsche über offene Plätze und durch zahllose Querstraßen und Gassen ratterte, murmelte er die Straßennamen vor sich hin:
»Rochester Row. Nun Vincent Square. Jetzt kommen wir bei der Vauxhall Bridge Road heraus. Wir fahren wohl auf die Surrey-Seite hinüber. Richtig, das dachte ich mir. Jetzt sind wir auf der Brücke. Sehen Sie, hier kann man einen Blick auf den Fluss erhaschen.«
Tatsächlich war für einen flüchtigen Augenblick das breite, ruhig fließende Wasser der Themse zu erkennen, auf dem sich die Lampenlichter spiegelten, aber unsere Kutsche jagte weiter, in das Straßenlabyrinth der jenseitigen Themseseite hinein.
»Wordsworth Road«, bemerkte mein Gefährte. »Priory Road. Lark Hall Lane. Stockwell Place. Robert Street. Cold Harbour Lane. Unsere Reise scheint uns nicht gerade in die vornehmsten Stadtteile zu führen.«
Tatsächlich hatten wir eine zweifelhafte, wenig anziehende Gegend erreicht. Lange Reihen düsterer Backsteinhäuser wurden nur durch den schäbigen Glanz grell erleuchteter Eckkneipen unterbrochen. Darauf folgten Straßen mit zweistöckigen Doppelhäusern, jedes mit einem winzigen Vorgärtchen, und dann wieder endlose Reihen nagelneuer, geschmackloser Ziegelbauten – sie wirkten wie monströse Fangarme, welche die Riesenstadt in ihre ländliche Umgebung hinein ausstreckte. Endlich