Das Zeichen der Vier. Sir Arthur Conan Doyle
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»Wenn wir jetzt noch nach Norwood fahren müssen, täten wir sicherlich gut daran, sogleich aufzubrechen«, erlaubte ich mir zu bemerken.
Er lachte laut auf, bis seine Ohren rot wurden.
»Wo denken Sie hin?« rief er. »Ich möchte nicht wissen, was er sagen würde, wenn wir ihm einfach so ins Haus fallen. Nein, ich muss Sie erst vorbereiten, und dafür müssen Sie erfahren, wie wir zueinander stehen. Aber zu allererst muss ich sagen, dass es in dieser Geschichte einige Punkte gibt, die mir selbst nicht klar sind. Ich kann Ihnen lediglich die Tatsachen unterbreiten, soweit sie mir bekannt sind.
Mein Vater war, wie Sie gewiss schon vermutet haben, John Sholto, ehemals Major in der Britisch-Indischen Armee. Vor gut elf Jahren nahm er seinen Abschied und zog sich nach Pondicherry Lodge in Upper Norwood zurück, um dort seinen Ruhestand zu verleben. Er hatte in Indien prosperiert und brachte ein ansehnliches Vermögen, eine große Sammlung wertvoller Antiquitäten und seine indische Dienerschaft mit nach England. Mit diesem Kapital konnte er ein Haus erwerben und in beträchtlichem Wohlstand leben. Mein Zwillingsbruder Bartholomew und ich sind seine einzigen Kinder.
Ich erinnere mich sehr gut, welches Aufsehen das Verschwinden von Captain Morstan damals erregte. Wir lasen alle Einzelheiten in der Zeitung, und da wir wussten, dass er ein Freund unseres Vaters gewesen war, unterhielten wir uns in seiner Gegenwart darüber, und er beteiligte sich an unseren Mutmaßungen, was Morstan wohl zugestoßen sein könnte. Niemals hätten wir es für möglich gehalten, dass das Geheimnis in seiner Brust verborgen lag und dass er der einzige noch lebende Mensch auf der Welt war, der das Schicksal von Arthur Morstan kannte.
Es blieb uns allerdings nicht verborgen, dass ein dunkles Geheimnis das Leben unseres Vaters überschattete, ja dass sogar eine reale Gefahr über ihm schwebte. Er hatte Angst, alleine auszugehen, und er hatte ständig zwei Preisboxer in seinen Diensten, die in Pondicherry Lodge als Pförtner angestellt waren. Williams, der Sie heute Abend kutschiert hat, ist einer ein ihnen. Er war früher englischer Meister im Leichtgewicht. Der Vater sprach aber niemals mit uns über die Ursache seiner Furcht; er zeigte lediglich eine höchst auffällige Aversion gegen Menschen mit einer hölzernen Beinprothese. Einmal schoss er tatsächlich mit seinem Revolver auf einen Mann mit Holzbein, der sich als völlig harmloser Hausierer herausstellte, welcher die Häuser nach Aufträgen abklapperte. Wir konnten die Sache nur vertuschen, indem wir ihm ein beträchtliches Schweigegeld zahlten. Mein Bruder und ich hielten das damals für eine bloße Marotte unseres Vaters, aber die späteren Ereignisse haben uns eines Besseren belehrt.
Anfang des Jahres 1882 erhielt der Vater einen Brief aus Indien, der ihm einen argen Schock versetzte. Er wurde fast ohnmächtig, als er den Brief am Frühstückstisch öffnete, und von diesem Tage an kränkelte er dem Tod entgegen. Was in dem Brief stand, erfuhren wir nie, aber ich konnte einen Blick darauf werfen, als mein Vater ihn in der Hand hielt, und ich konnte erkennen, dass er nur kurz und in krakeliger Handschrift geschrieben war. Der Vater hatte schon seit vielen Jahren an einer vergrößerten Milz gelitten, und nun verschlimmerte sich das Übel zusehends, und Ende April teilte man uns mit, dass keine Hoffnung mehr bestand und er eine letzte Aussprache mit uns wünschte.
Als wir in sein Zimmer traten, lag er aufgerichtet in den Kissen und atmete schwer. Er beschwor uns, die Tür sorgfältig zu schließen und zu beiden Seiten neben sein Bett zu treten. Dann ergriff er unsere Hände und machte uns mit gebrochener Stimme, die von Gemütsbewegung wie von Schmerz gezeichnet war, ein unvergessliches Geständnis. Ich will versuchen, Ihnen dieses Bekenntnis in seinen eigenen Worten wiederzugeben.
›Es gibt nur Eines, was mir angesichts des Todes auf der Seele liegt‹, sagte er. ›Das ist das Unrecht, das ich der Waise des armen Morstan angetan habe. In meiner verfluchten Geldgier, der schlimmsten Sünde meines Lebens, habe ich ihr den Schatz vorenthalten, der wenigstens zur Hälfte ihr zusteht. Dabei habe ich ihn selbst gar nicht angerührt – so blind und töricht macht uns die Habsucht. Das bloße Gefühl des Besitzens war mir so wichtig, dass ich es nicht ertragen konnte, mit jemandem zu teilen. Seht ihr das Perlendiadem, das dort neben der Chininflasche liegt? Selbst von ihm konnte ich mich nicht trennen, obwohl ich es dem Schatz entnommen hatte in der Absicht, es Morstans Tochter zu schicken. Ihr, meine Söhne, sollt ihr ihren gerechten Anteil an dem Agra-Schatz zukommen lassen. Aber schickt ihr nichts, auch nicht das Perlendiadem, bevor ich unter der Erde bin. Schließlich ist schon mancher noch schlimmer dran gewesen als ich und doch wieder gesund geworden.
Nun will ich euch berichten, wie Morstan zu Tode kam‹, fuhr er fort. ›Er hatte schon seit vielen Jahren am schwachen Herzen gelitten, das aber vor aller Welt verheimlicht. Ich war der einzige, der es wusste. Nun sind wir, als wir beide in Indien dienten, durch eine seltsame Verkettung von Umständen in den Besitz eines bedeutenden Schatzes gelangt. Ich habe ihn nach England gebracht, und als Morstan hier eintraf, suchte er mich noch am Abend seiner Ankunft auf, um seinen Anteil zu fordern. Er kam vom Bahnhof zu Fuß hierher, und mein alter treuer Diener Lal Chowdar, der nun auch schon tot ist, ließ ihn ein. Morstan und ich gerieten in Streit über die Aufteilung des Schatzes, und es kam zu einem heftigen Wortwechsel. In einem Wutanfall sprang Morstan vom Stuhl auf, doch plötzlich presste er die Hand auf die Brust, wurde aschbleich und stürzte rücklings zu Boden, wobei er mit dem Kopf gegen eine Ecke der Schatztruhe schlug. Als ich mich über ihn beugte, stellte ich mit Entsetzen fest, dass er tot war.
Ich saß minutenlang verwirrt und ratlos da und fragte mich, was ich nun tun sollte. Mein erster Impuls war natürlich, Hilfe zu holen, aber dann dämmerte mir, dass man mich höchstwahrscheinlich für Morstans Mörder halten werde. Sein Tod im Verlauf eines hitzigen Streits und die klaffende Kopfwunde würden einen schweren Verdacht auf mich werfen. Falls eine gerichtliche Untersuchung stattfand, würden außerdem gewisse Tatsachen über den Schatz ans Licht kommen, die ich unter allen Umständen geheim halten wollte. Morstan hatte mir gesagt, dass er keiner Menschenseele erzählt hatte, wohin er gehen wollte, und ich fand, es sei auch nicht nötig, dass je eine Menschenseele davon erfuhr.
So wälzte ich die Sache in Gedanken hin und her, als ich aufblickte und plötzlich meinen Diener Lal Chowdar in der Tür stehen sah. Er schlich herein und riegelte die Tür hinter sich zu. ›Seid ohne Furcht, Sahib‹, sagte er. ›Niemand braucht zu erfahren, dass Ihr ihn umgebracht habt. Wir wollen ihn beiseite schaffen, dann kräht kein Hahn mehr danach.‹ – ›Ich habe ihn nicht umgebracht!‹ rief ich. Aber Lal Chowdar schüttelte nur lächelnd den Kopf. ›Ich habe alles gehört, Sahib‹, sagte er. ›Ich hörte den Streit, und ich hörte den Schlag. Aber meine Lippen sind versiegelt. Das ganze Haus liegt in tiefem Schlaf. Schaffen wir ihn gemeinsam fort.‹ – Das entschied die Sache. Wenn schon mein eigener Diener nicht an meine Unschuld glaubte, wie konnte ich dann hoffen, vor zwölf engstirnigen Kleinhändlern auf der Geschworenenbank zu bestehen? So schafften Lal Chowdar und ich noch in der Nacht die Leiche fort, und wenige Tage darauf waren die Londoner Zeitungen voll von Artikeln über das rätselhafte Verschwinden des Captain Morstan. Nach allem, was ich euch jetzt erzählt habe, werdet ihr einsehen, dass ich für diese Sache kaum verantwortlich zu machen bin. Schuldig habe ich mich allein dadurch gemacht, dass wir nicht nur die Leiche versteckt haben, sondern auch den Schatz, und dass ich von Morstans Anteil ebenso wenig lassen konnte wie von meinem eigenen. Deshalb ist es mein Wunsch und Wille, dass ihr Wiedergutmachung leisten sollt. Beugt euch zu mir herunter, mit dem Ohr ganz dicht zu meinem Mund. Der Schatz ist in –‹
In diesem Augenblick malte sich in seinen Zügen eine furchtbare Veränderung: Seine Augen quollen vor Furcht heraus, sein Kiefer sank herab, und er kreischte mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde: ›Lasst ihn nicht herein! Um Christi willen, lasst ihn nicht herein!‹ Wir fuhren herum zu dem Fenster, das sein entsetzter Blick fixierte. Aus der Dunkelheit starrte uns ein Gesicht an. Wir sahen, wie sich die Nase weiß von dem gegen die Scheibe gepressten Gesicht abhob. Es war ein bärtiges, behaartes Gesicht mit wilden, grausamen