Erinnerungswürdig. Walter Thaler
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Das Bundesland Salzburg hat eine Vielzahl von Persönlichkeiten hervorgebracht oder als Landesbürger*innen aufgenommen, die der Entwicklung der Welt einen deutlichen Schub verpasst, also nachhaltige Entwicklungen ausgelöst haben. Diese Menschen mit Vorbildcharakter haben es gewagt, die herrschenden Tabus und abgestandenen Wertvorstellungen eines jahrhundertelang erzkonservativen Fürsterzbistums zu durchbrechen. Sie waren weitsichtig genug, Entwicklungen zu erkennen und zu beschleunigen. Zu ihnen zählen der Pädagoge Franz Michael Vierthaler, der kulturelle Seismograph Österreichs, Hermann Bahr, der Maler Hans Makart, der die Kunst und das Gesellschaftsleben Wiens ein ganzes Vierteljahrhundert geprägt hat; dazu gehören später der Regisseur und Schriftsteller sowie das Mitglied des Direktoriums der Salzburger Festspiele, Ernst Lothar, der Philosoph des menschlichen Maßes Leopold Kohr, die Vorkämpferin der Frauenemanzipation Irma von Troll-Borostyani und viele Künstler*innen und Geistesmenschen. Sie und viele andere Salzburger*innen, die der Welt so viel gegeben haben, dürfen nicht in Vergessenheit geraten.
Manche der hier Porträtierten aber haben durch ihr Handeln großes Unrecht begangen und sind für den Tod vieler Menschen verantwortlich. Sie haben sich zu Unmenschen entwickelt, weil sie sich dem mörderischen Unrechtsregime des Dritten Reiches angedient haben. Daher wird hier das Leben des aus Salzburg stammenden steirischen Gauleiters Sigfried Uiberreither wie auch Adolf Höfles, des Adolf Eichmann von Salzburg, beleuchtet. Auch sie müssen dem Vergessen entrissen werden, weil das Böse auch in unserer Zeit latent vorhanden ist und daher den Anfängen gewehrt werden muss. Dem Verfasser wird manchmal gesagt, er solle doch die unrühmliche Vergangenheit ruhen lassen. Dem muss ich entgegenhalten, dass die Kultur der objektiven Erinnerung in Österreich immer noch ein Schattendasein führt. Sie wird verdeckt von den Schutzschichten der Verdrängung, der Verschleierung und der Verleugnung des Mitwissens. Daher ist es dringend geboten, auch deren Opfer zu benennen, etwa den Schauspieler Leo Reuss, den Schriftsteller Carl Zuckmayer, den Hotelier Isaac Arditti und Hitlers Frontkamerad, den Schriftsteller Alexander Moritz Frey, die allesamt den Verfolgungen des Nazi-Regimes und der Verdrängung der Nachkriegszeit ausgesetzt waren.
Weil es im Bundesland Salzburg so viele Menschen gibt, die als „historisch“ eingestuft werden können, fiel es mir auch diesmal schwer, eine gerechte Auswahl zu treffen. Gewisse Einschränkungen konnten aber leicht vorgenommen werden. Das musikalische Weltgenie Mozart, über das bereits ganze Bibliotheken geschrieben worden sind, habe ich bewusst ausgeklammert. Nicht jedoch Mozarts Ehefrau Constanze, die lange Zeit als geistlos und raffgierig Geschmähte, die Mozarts erste Biografie verfasst hat. Von Salzburgs größtem Lyriker Georg Trakl gibt es eine Fülle von Monografien und literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, daher habe ich stattdessen den Leidensweg seiner Schwester Grete aufgezeichnet, der mit dem ihres Bruders schicksalhaft verstrickt ist. Der Literaturgigant Stefan Zweig ist in Salzburg ohnehin eine fest verortete Größe, daher versuche ich, dessen erste Ehefrau Friderike und seinen Cousin Max dem Vergessen zu entreißen. Keineswegs wollte ich den bedeutenden Salzburger Mathematiker, Physiker und Astronomen Christian Doppler ausblenden, denn dieser ist bei Weitem nicht so präsent im Bewusstsein der Bevölkerung, hat aber das Leben der Menschheit durch seine Forschungen extrem revolutioniert und verbessert.
Aufgenommen habe ich auch Persönlichkeiten wie die junge Pongauer Protestantin Elisabeth Oberbüchler, die durch die brutale Politik des Landesfürsten Erzbischof Firmian den Bauernhof in St. Johann verlassen und nach Ostpreußen emigrieren musste. Nicht übergehen konnte ich die Hausgehilfin Paula Fichtl aus Gnigl, die jahrzehntelang dem großen Psychoanalytiker Sigmund Freud und seiner Tochter Anna als Haushälterin zur Seite stand und mit ihm auch ins Exil nach England ging.
Ein besonderes Anliegen war es mir, bedeutende Frauengestalten im Buch zu porträtieren. Die meisten der hier beschriebenen Frauen mussten sich gegen Widerstände und Benachteiligungen ihren Platz erkämpfen, auch im Widerstreit gegen das Unwissen des eigenen Geschlechts. Zu groß waren die Übermacht der Männer und die starren Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft in der Vormoderne. Aber mit Mut und Zuversicht haben sie zu ihrem eigenen Leben gefunden und sind zu Vorzeigefiguren unseres Bundeslandes geworden. Sie sind Ikonen dafür, was Frauen erreichen können, wenn sie sich etwas zutrauen. So etwa die Vorkämpferin der Frauenemanzipation in Salzburg, Irma von Troll-Borostyani, oder die Powerfrau des Lungaus, Margit Gräfin Szápáry.
Neben den biografischen Darstellungen finden sich im Buch auch blitzlichtartig ausgeleuchtete Ereignisse, in denen strukturell und gesellschaftlich gut vernetzte Personen versucht haben, ihre Machtinstrumente zu ihrem persönlichen Nutzen einzusetzen. Diese kurzen Lebensausschnitte solcher Menschen sollen als Warnschilder aufgestellt sein, um Wiederholungen zu verhindern. Ihnen gegenüber stehen Künstler*innen-Persönlichkeiten, die im Stillen und konsequent an ihrem Lebenswerk gearbeitet und den Ruf Salzburgs als Kulturland gestärkt haben. Entstanden ist so ein Zeitgewebe über vier Jahrhunderte, dargestellt an Menschen der verschiedensten Sozialschichten, die es gilt, ins kollektive Bewusstsein zurückzuholen.
Walter Thaler
ELISABETH OBERBÜCHLER
* ca. 1713
Todestag unbekannt
Das Schicksal einer protestantischen St. Johanner Bauerntochter
In den Salzburger Gebirgsgauen Pongau und Pinzgau fallen die Lehren Martin Luthers auf einen besonders fruchtbaren Boden. Die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen im streng katholischen Kirchenstaat Salzburg scheinen sich unter den Erzbischöfen Johann Ernst Graf von Thun und Hohenstein und Franz Anton Graf von Harrach zu beruhigen. Doch als Leopold Anton von Firmian den erzbischöflichen Stuhl besteigt, ist es mit dem Religionsfrieden vorbei. Das Ziel des neuen Landesfürsten ist es, die katholische Kirche in Salzburg wieder zur alten „Macht und Herrlichkeit“ zu führen. Der von einer hemmungslosen Religiosität charakterisierte Landesherr formuliert seine Überzeugung in bildhafter Sprache: „Lieber Dornen und Disteln auf den Äckern als Protestanten im Lande.“
Firmian schickt 200 Soldaten in die Gebirgsregionen des Pongaus und Pinzgaus, um seine Macht zu demonstrieren und sie durchzusetzen. Protestanten werden zu Rebellen erklärt und fallen damit nicht mehr unter die Religionsfreiheit des Westfälischen Friedens. Der fanatische Landesfürst lässt zudem Jesuiten aus Bayern holen, die auf den Dorfplätzen predigen und die Evangelischen zur Rückkehr zum alten Glauben zwingen wollen. Als der Erfolg ausbleibt, lässt er in den Jahren 1731/32 auf Rat seines Hofkanzlers Hieronymus Cristani von Rall alle Protestanten des Landes verweisen. Firmian unterzeichnet am 31. Oktober 1731 das Emigrationspatent, das in offenem Widerspruch zur Vereinbarung des „Westfälischen Friedens“ von 1648 steht. In diesem ist ausdrücklich eine dreijährige Frist für eine Ausweisung vorgesehen. Der österreichische Kaiser Karl VI. ist zwar mit Firmians Vorgangsweise nicht einverstanden, begnügt sich jedoch, den erzbischöflichen Landesherrn zu einer milden Anwendung zu mahnen.
„Angesessene“ (d.h. Grundbesitzer) müssen je nach Größe ihres Grundbesitzes und Vermögens zehn Prozent als „Nachsteuer“ bezahlen, um die leeren Kassen des Fürsterzbischofs aufzufüllen. Innerhalb weniger Monate werden durch Firmians gnadenlose Härte mehr als 20 000 protestantische Salzburger*innen aus dem Land vertrieben. Auch die erst 18-jährige Bauerntochter Elisabeth Oberbüchler muss dieses grausame Schicksal erleiden und landet schließlich in der ostpreußischen Provinz rund um Königsberg (heute: russische Enklave Kaliningrad).
Bereits im Juli 1731 schickt Firmian Soldaten in die südlichen Salzburger