GLOBALE PROVINZ. Georg Rainer Hofmann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу GLOBALE PROVINZ - Georg Rainer Hofmann страница 15
Die Basis der Entwicklung des MDZ71 sollte das »Musical Instrument Digital Interface« (MIDI) sein. Das MIDI war – und ist – ein Industriestandard, damals vor allem unterstützt vom Synthesizer-Hersteller Roland. Mit MIDI können Steuerinformationen zwischen elektronischen Instrumenten-Komponenten, wie Keyboards oder Synthesizern, ausgetauscht werden. Die MIDI-Daten sind lediglich »symbolische« Steuerdaten, keine digitalen Audiosignale. MIDI-Daten modellieren etwa die Betätigung von Keyboard-Tasten und können an einen Synthesizer gesendet werden, der das geforderte Tonereignis dann produziert, was wiederum über einen Lautsprecher hörbar gemacht werden kann. MIDI-Daten sollten im MDZ71 als Partitur visualisiert und fast beliebig editiert und transformiert werden können, um etwa Töne auf die andere Tonhöhe oder Einsatzzeit zu bringen oder ihnen eine andere Klangfarbe zuzuweisen.
Für den Aufbau des MDZ71 war im Jahr 1987 ein kleiner PC namens »Atari ST« der Firma »Atari Corporation« ideal. Dieser hatte standardmäßig eine MIDI-Schnittstelle. Der Atari ST hatte außerdem ein Basissystem »Graphics Environment Manager« (GEM), das die Programmierung einer graphischen Bedienoberfläche für den MDZ71 ermöglichte. Die Graphik war allerdings nur schwarz-weiß, mit einem Bit pro Pixel.
In den Jahren 1987 bis circa 1989 gab es zwar schon E-Mail und die AGD konnte sie auch benutzen, das brachte aber nicht viel, weil man dafür noch zu wenige Kommunikationspartner hatte. Die kritische Anzahl der E-Mail-Teilnehmer war noch nicht erreicht. Eine Fraunhofer-Visitenkarte aus diesen Jahren führte noch keine E-Mail-Adresse auf, wohl aber eine Telex-Nummer. Die allermeisten Arbeitsunterlagen wurden im MDZ71-Projekt zwischen Zürich und Darmstadt per Briefmarkenpost zugeschickt. Ein modernes Echtzeit-Kommunikationsmittel war damals das Telefax, das man aber nur für Dokumente von wenigen Seiten Umfang gebrauchen konnte.
Die Deutsche Bundespost bot sogar einen Schnellbrief-Dienst an, den »Teletex-Brief«. Dazu konnte man als Absender von einem Postamt aus einen Brief per Fax an einen Empfänger schicken, der selbst kein Fax haben musste. Die Post suchte ein Postamt in der Nähe des Empfängers. Dorthin wurde das Fax geschickt, und dann der Thermopapier-Ausdruck dem Empfänger im Briefumschlag per Postboten zugestellt. Wir hatten damals bei der AGD für das Posttechnische Zentralamt (PTZ) in Darmstadt ein kleineres Projekt im Umfeld des Teletex-Briefs. Es ging darum, Monitore für die Darstellung von diesen Teletex-Briefen auszusuchen, um diese Dokumente ohne Ausdruck – von Postamt zu Postamt – weiterleiten zu können. Das Problem war als Gegenstand der Angewandten Forschung schon interessant, weil anscheinend niemand bis dahin auf den Gedanken gekommen war, ein Fax auf einem Bildschirm darstellen zu wollen.
Für den Musikcomputer MDZ71 wurde der Atari ST über das MIDI-Protokoll mit einem Yamaha-Synthesizer TX802 verbunden, der die – damals hochmoderne – Frequenz-modulierte Synthese von Tönen ermöglichte. Der TX802 realisierte damit die Klangfarbe von Tonereignissen als Elemente eines unendlich-dimensionalen Funktionenraums. Für die Implementierung der eigentlichen MDZ71-Software konnte ich meinen ehemaligen Kommilitonen Christof Blum gewinnen, der damit seine Diplomarbeit realisierte. Für den MDZ71 wurde eine Verallgemeinerung »Score« des bekannten Prinzips der Partitur programmiert. Die Parameter der Tonereignisse wurden als geometrische Parameter modelliert und dargestellt. Es war dann möglich – aber freilich nicht immer sinnvoll, etwa die Tonart eines Stücks zu verändern oder die Abspielgeschwindigkeit. Man konnte auch, einfach so, die Parameter komplett austauschen, etwa Einsatzzeit versus Tonhöhe, was dann eine aleatorisch anmutende Musik im Ergebnis ergab.
Der Musikcomputer MDZ71 auf der Basis des Atari ST und des Yamaha-Synthesizers TX802. Das ist der Aufbau auf einem Tisch im Gebäude der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, wenige Minuten vor der Vorführungfür Herbert von Karajan im Mai 1988. Die Fotographie wurde von Christof Blum zur Verfügung gestellt.
Während des MDZ71-Musikcomputer-Projekts sollte ich, wie so viele andere Kolleginnen und Kollegen sicher auch, eine wichtige Erfahrung machen. Die Programmierung des MDZ71 wurde nicht – mehr – von mir selbst ausgeführt. Ich war unversehens in die Rolle eines »IT-Projekt-Managers« hinein geraten: Ich plante, wer von den Programmierern wann und was realisieren sollte, motivierte die Programmierer und kontrollierte das Ergebnis. Ich fand mich so in der Rolle wieder, die Projektergebnisse gegenüber Guerino Mazzola und anderen Interessierten zu vertreten. Ich hatte ohne große Absicht die Ebene eines quasi »Meta-Informatikers« erreicht, mit einer kleinen Projekt- und Personal-Verantwortung. Das war ein Quantensprung.
Am 24. und 25. Mai 1988 fand ein Symposium der Herbert-von-Karajan-Stiftung bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien statt. Wir hatten dort einen Vortrag zur Präsentation des MDZ71 eingereicht. Guerino Mazzola hatte es zudem arrangiert, dass sich Herbert von Karajan, der im Jahr 1988 der wohl bekannteste Musiker der Welt war, den MDZ71 persönlich und exklusiv vorführen lassen wollte. Wir hatten den MDZ71 für den Termin in einem Büro des Wiener Musikvereinsgebäudes aufgebaut. Herbert von Karajan »rauschte heran« mit seinem Hofstaat von der Deutschen Grammophon. Karajan hatte ein irrwitziges Auto, einen Porsche 959. Das könnte damals das wohl schnellste Serienauto der Welt gewesen sein. Unvergesslich ist mir unsere MDZ71-Vorführung. Der bereits schwer gehbehinderte von Karajan trug einen dunkelblauen ausgebeulten Trainingsanzug. Wir durften bei dieser Begegnung leider keine Erinnerungsfotos aufnehmen, die Herbert von Karajan persönlich gezeigt hätten.
Dr. Christof Blum, Eschborn
Exkurs – Über Musik mit Menschen und Maschinen
Wenn man das so liest, so wird einem bewusst, wie gut sich die Geschichte der Digitalisierung mit ihren verschiedenen Entwicklungsstufen der vergangenen 40 Jahre anhand der technischen Entwicklungen in der Musik erzählen lässt.
Im MDZ71 wurden Tonereignisse verarbeitet, deren Merkmale nahe an der Notenschrift liegen. Ein Ereignis wird durch Tonhöhe, Einsatzzeit, Dauer und Lautstärke beschrieben. Der angeschlossene Synthesizer erzeugte hieraus Klänge mithilfe von Schwingungsgeneratoren. In gleicher Weise, wie sich die graphische Datenverarbeitung der 1980er-Jahre in Richtung digitaler Bildverarbeitung entwickelte, zog die digitale Signalverarbeitung in der Musik ein. Das Pendant des Pixels ist das Sample. Digitale Signalverarbeitung ermöglicht nicht nur die Reproduktion beliebiger natürlicher Klänge sondern auch eine stark komprimierte Signalspeicherung, wie sie dem MP3-Format zugrunde liegt.
Wie kein weiteres Kürzel steht »MP3« für den digitaltechnikbedingten Umbruch einer ganzen Branche. Physische Tonträger gehören seitdem der Vergangenheit an. Musik ist immateriell geworden. Nein, die MP3-Erfinder kommen nicht aus dem Silicon Valley, sondern vom Fraunhofer-Institut in Erlangen. Freilich hat effiziente Signalverarbeitung nichts mit »Verstehen« zu tun. Auch dies kann am Beispiel der Musik gut illustriert werden. Die populäre Shazam-App »erkennt« in Sekundenschnelle gespielte Musiktitel und nennt Interpreten und Namen des Stückes. Schier endlos scheint die Musikdatenbank zu sein, auf die hier zugegriffen wird. Und der Abgleich erfolgt beeindruckend schnell. Wer aber meint, die App verstehe etwas von Musik, der irrt.
Das Thema »Computer machen Musik« ist heute so spannend wie in den 1980er-Jahren. Technische Innovationen und geändertes Nutzungsverhalten sind grundsätzlich eher lose miteinander gekoppelt. Das soll heißen, dass nicht jeder technologische Quantensprung unmittelbar die Welt verändert, aber im Einzelfall können vergleichsweise kleine technische Fortschritte eine Lawine an Verhaltensänderung hervorrufen. Die Flut an Bildern und Tönen, von denen wir heute umgeben sind, war vor 40 Jahren so nicht vorstellbar. Auch wenn auf Technikebene in weiten Teilen »nur« quantitative Effekte (Netzbandbreite, Prozessorleistung) die Entwicklung prägten, auf Nutzungsebene vollzogen sich fundamentale Veränderungen. Jedem Hobbymusiker steht heute im Internet eine weltweite Bühne bereit. Die Explosion an Kreativität ist spürbar. Musik ist überall. Und mit dem neuen Licht kommt auch ein neuer Schatten, denn die Musik ist nicht mehr ortsgebunden. Die weltweite Bühne