Wandern. 100 Seiten. Nina Ayerle
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Im Mittelalter wanderten vor allem Angehörige dieser beiden Berufsgruppen, die meisten anderen Menschen führten kein sonderlich mobiles Leben, sondern verbrachten in der Regel ihr Leben am selben Ort. Die Händler zogen von Siedlung zu Siedlung, um ihre Waren zu verkaufen und neue zu beschaffen. Handwerker wiederum sollten bei ihren obligatorischen Gesellenwanderungen Land und Leute kennenlernen, sich neue Techniken aneignen und vor allem Erfahrungen sammeln. Walz oder Wanderjahre nannte man diese Zeit der Wanderschaft zukünftiger Gesellen nach dem Abschluss ihrer Lehrjahre. Etwa vom Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung waren diese Jahre Voraussetzung für die Meisterprüfung. Heute noch sind Zimmerleute, erkennbar an ihren schwarzen Cordschlaghosen, nach ihrer Ausbildung häufig einige Jahre unterwegs. Ein Handwerker, der sich auf dieser traditionellen Wanderschaft befindet, wird als ›Fremdgeschriebener‹ oder schlicht ›Fremder‹ bezeichnet.
Bis heute gehen Zimmerleute auf die Walz, die seit 2015 zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO zählt. Das Foto zeigt zwei reisende Handwerker in Erfurt 1990.
Mobilität war im Mittelalter bestimmten Berufsgruppen vorbehalten. Doch auch fliegende Händler und Spielleute mussten in der Regel ohne Fahrzeuge auskommen, also zu Fuß unterwegs sein. Letztere waren oft für Unterhaltung am Hofe zuständig, verbreiteten aber auch Neuigkeiten. In gehobenen Kreisen gab es zudem die sogenannten Scholare. Das waren Gelehrte, die mit einer ausgewählten Gruppe von Studenten von Universität zu Universität wanderten, um ihren geistigen Horizont zu erweitern.
Wenn überhaupt, waren die Menschen also unterwegs, weil sie unterwegs sein mussten. Wandern als pure Freizeitbeschäftigung gab es damals noch nicht. Der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304–1374) sowie sein Bruder Gherardo gelten in der Geschichte als die Begründer des Wanderns. Sie bestiegen im Jahr 1336 den Mont Ventoux und erreichten eine Höhe von 1900 Metern. Seine Erlebnisse schilderte Petrarca in einem Brief, der unter dem Titel »Die Besteigung des Mont Ventoux« berühmt wurde.
Petrarca wird nachgesagt, als Erster einen Berg aus purer Neugierde erklommen zu haben. Er wollte die Welt von oben betrachten. Das Bedürfnis, die Welt zu erkunden, kam in der Zeit der Renaissance auf. Man wanderte also nicht mehr ausschließlich aus Notwendigkeit, sondern immer mehr Wanderer waren auf einmal von Entdeckergeist getrieben.
Erst in der Epoche der Romantik (etwa 1795–1848) entstand allerdings das Wandern in der Form, wie wir es heute kennen. Wandern, um die Landschaft, die Luft und die Einsamkeit der Natur zu genießen und zu Fuß gehend zu sich selbst zu finden, wurde erstmals ein Mittel, um dem Alltag zu entfliehen und Verbundenheit mit der Natur zu spüren – ein Bedürfnis, das typisch war für diese Epoche. Wandern hatte damit plötzlich einen ganz neuen Charakter. Es wurde zum Gehen um des Gehens willen – ohne Ziel.
1895 gründete sich in Wien die Bewegung der Naturfreunde. Sie öffnete das Freizeitwandern für die proletarische Schicht. Die Naturfreunde hatten eine starke sozialistische Prägung, sie wollten das Wandern jedem ermöglichen. Sie errichteten flächendeckend Naturfreundehäuser, in denen Wanderer billig übernachten und Urlaub machen konnten. Seit ihrer Gründung haben sie mehr als 700 solcher Naturfreundehäuser errichtet, in Deutschland existieren etwa 400. Auch heute noch sind die Naturfreunde Deutschlands laut ihrer Vereinssatzung ein sozial-ökologischer und gesellschaftspolitisch aktiver Verband, der sich für Umweltschutz, sanften Tourismus sowie Sport und Kultur einsetzt. Mehr als 66 000 Mitglieder engagieren sich in 550 Ortsgruppen für Nachhaltigkeit und die Umwelt. Weltweit sind rund 350 000 Naturfreunde im Einsatz. Die Naturfreunde haben ebenso wie die Wander- und Alpenvereine das Wandern in die breite Bevölkerung getragen.
Richtig populär wurde das Wandern, nachdem der Berliner Student Hermann Hoffmann-Fölkersamb (1875–1955) 1896 eine Wandergruppe für Jugendliche gegründet hatte, mit denen er Ausflüge in die nähere Umgebung unternahm. Das war für die damalige Zeit ein Novum, denn eigentlich hatten Jugendliche aus der Bürgerschicht im wilhelminischen Kaiserreich kein eigenes Freizeitprogramm. Sie blieben in der Familie, gemeinsame Ausflüge mit Freunden etwa kannten Schüler damals nicht, und Mädchen erst recht nicht.
Zur Wandergruppe von Hoffmann-Fölkersamb gehörten daher zunächst nur Jungen. Der Jurist und Diplomat gilt als Begründer der legendären Wandervogel-Bewegung. Sein Nachfolger Karl Fischer gründete 1901 den Verein »Wandervogel – Ausschuss für Schülerfahrten«, der bald in anderen Städten Nachahmer fand.
Das Wandern wurde damit erstmals politisch: Es war auch ein Mittel, um sich vom Elternhaus zu emanzipieren, um Freiheit zu erlangen und eigene Wege zu gehen. Die jungen Wanderer kleideten sich bewusst leger und schliefen in Zelten unter freiem Himmel. Es ging ihnen aber nicht nur um das Naturerlebnis, die Wandervögel waren auch eine Protestbewegung. Wandern, Natur und Volksmusik kultivierten sie als Gegenprogramm zur Enge des deutschen Kaiserreichs. Innerhalb kürzester Zeit hatte der Verein rund 40 000 Mitglieder. Im Jahr 1907 entstanden erstmals eigene Wandergruppen für Mädchen – die damit ein kleines Stück Freiheit im Alltag erlangten. Wandern wurde erstmals ein Volkssport.
Eine Gruppe des Steglitzer Wandervogels aus Berlin auf großer Fahrt, um 1930.
Zuvor hatte es in Deutschland eher einen nationalistisch-völkischen Hintergrund gehabt, maßgeblich geprägt und beeinflusst von Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) und seinen Turnern. Für ihn gehörte das Wandern zum »deutschen Volkscharakter« und war somit eine Methode, um das deutsche Nationalgefühl zu wecken. Aus Jahns Sicht seien »vaterländische Wanderungen« notwendig, weil sie zwar den Blick des Menschen erweiterten, aber ihn dabei dem Vaterland nicht entfremdeten. Darin begründet liegt die deutsche Wanderideologie, die dann später in Turnerschaften und Vereinen intensiv gepflegt wurde und zum deutschen Selbstverständnis beitrug. Vielleicht hatte das Wandern deshalb jahrzehntelang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein eher konservativ-spießiges Image. Zu nah schien es an den einst gepriesenen »deutschen Tugenden«, die nach dem Krieg zu Recht in Verruf geraten waren.
Inspiration fand die Wandervogel-Bewegung vor allem bei Autoren wie Hermann Hesse (1877–1962) oder Rainer Maria Rilke (1875–1926). Hesse schrieb in seinem Buch Wanderung: Aufzeichnungen:
Ich neige dazu, aus dem Rucksack zu leben und Fransen an den Hosen zu haben. Lange hat es gedauert, bis ich wußte […], daß ich Nomade bin und nicht Bauer, Sucher und nicht Bewahrer. […] Der Wanderer ist in vielen Hinsichten ein primitiver Mensch, so wie der Nomade primitiver ist als der Bauer. Die Überwindung der Seßhaftigkeit aber und die Verachtung der Grenzen machen Leute meines Schlages trotzdem zu Wegweisern der Zukunft.
Schon im 19. Jahrhundert hatte die Zahl der Wanderungen allmählich zugenommen, vor allem die der Bergwanderungen. Damit war die Motivation für Touren erstmals auch eine sportliche: Es entstand das Bedürfnis, Gipfel zu erklimmen, sich mit der erhabenen Natur zu messen und diese zu bezwingen. Ungefähr in diesem Zeitraum entstand der Wandertourismus in den Alpen. Wandern war nun sowohl eine Form der Erholung als auch sportliche Betätigung. Einer der Auslöser war die industrielle Revolution – seit immer mehr Arbeiter von der Landwirtschaft in die Fabriken wechselten, suchten die Menschen nämlich einen Ausgleich zu ihrer Arbeit in der Natur, abseits von den inzwischen stinkenden und lauten Städten. Mit dem Bau des Eisenbahnnetzes Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich der Trend – es war nun bequemer und schneller möglich, in der freien Zeit die Stadt zu verlassen, um weite Reisen zu unternehmen und die Natur zu erleben. Allerdings hatten die Menschen in dieser Epoche weniger Freizeit als wir heute.
Etwa