Ich glaubte immer an die Kraft in mir. Bianca Sissing

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Ich glaubte immer an die Kraft in mir - Bianca Sissing

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nicht das Bedürfnis, alles zu kommentieren. Manchmal höre ich, dass die Leute auf subtile Weise eine Bemerkung über mich machen, sie glauben, dass ich sie vielleicht nicht gehört oder nicht verstanden habe, dabei habe ich sie gehört und verstanden. Doch ich lasse die Worte einfach vorüberziehen und entscheide mich, nicht weiter auf das Thema einzugehen. Manche denken, dass schüchterne Menschen langsam oder nicht so klug sind. Doch schüchterne Menschen sind zumeist sehr feinfühlig, nehmen Energien wahr und können andere Menschen gut einschätzen. Schüchterne Menschen nehmen die feinen Einzelheiten wahr. Das gilt auch für die Wahrnehmung der Absicht und des Charakters anderer Menschen.

      Je älter ich wurde und je mehr Erfahrung ich im Umgang mit anderen Menschen gewann, desto eher ließ ich meine Mauern fallen. Heute würde ich mich immer noch nicht gerade als extrovertiert bezeichnen, doch ich bin schon einen sehr, sehr weiten Weg gegangen und habe große Fortschritte gemacht. Und ich bin stolz auf die Entwicklung, die ich gemacht habe. Das schüchterne kleine Mädchen bin ich nicht mehr. Ich bin ein starker, freundlicher, warmherziger und kontaktfreudiger Mensch.

      Kampf oder Flucht nach Ottawa

       »Mögest du die Stärke haben, den Weg zu erkennen, den Mut und die Geduld, den Weg zu gehen, und glücklich sein auf deinem Weg.«

      Als Mom im Krankenhaus war, traf sie andere Patienten, denen das Sorgerecht für ihre Kinder sehr schnell entzogen wurde. In meinem Fall hatte Mom immer noch das volle Sorgerecht für mich, obwohl sie bereits fast ein Jahr lang immer wieder in der Psychiatrie war. Sie wusste sehr wohl, dass Dad zu jeder Zeit einen Anwalt hätte anrufen können und sich innerhalb einer Minute alles verändern könnte. Sie wusste, dass sie aufgrund ihrer Krankenhausaufenthalte, ihrer psychischen Labilität und ihrer finanziellen Situation das Sorgerecht für mich sofort verlieren könnte und die Besuchszeiten damit begrenzt würden. Und sie wusste, dass sie sich mit Dad oder mit dem Anwalt nicht darüber hätte auseinandersetzen können. Das wäre zwecklos gewesen, da hätte sie keine Chance gehabt. Sie entschied, dass das nicht passieren dürfe.

      Aufgrund ihrer guten Entwicklung als Patientin wurde es meiner Mutter manchmal erlaubt, eine Nacht in ihrer Wohnung zu verbringen. Dann war ich das Wochenende bei ihr. Das waren ganz besondere Zeiten für uns, wir unternahmen dann etwas Schönes zusammen, etwas, was wir am liebsten taten. Zum Beispiel gingen wir in unserer liebstes Burger-Lokal, fuhren durch unsere Lieblingsstadtteile von Toronto oder gingen zum Markt.

      An einem Samstagnachmittag holte Mom mich bei Dad ab, und wir gingen gleich um die Ecke ihrer Wohnung zu »Lick’s«, unserem liebsten Esslokal, um ein Eis zu essen. Später saßen wir in Moms kleinem, alten, grünen Datsun und sie fing an zu reden. Ich erkannte an ihrer Stimme, dass sie es ernst meinte. »Du weißt, dass es mir nicht gut geht, dass ich Arztbesuche machen, regelmäßig Medikamente einnehmen und manchmal im Krankenhaus bleiben muss. Wenn ich in Toronto bleibe, werde ich im Krankenhaus sein, und du wirst bei Dad wohnen. Dann können wir uns nur an den Wochenenden sehen. Die einzige Möglichkeit für mich, das Krankenhaus zu verlassen, ist, zu meinem Bruder Tom nach Ottawa zu ziehen. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten. Entweder wir gehen zusammen nach Ottawa und leben bei deinem Onkel. Oder wir bleiben hier in Toronto, dann wirst du weiterhin bei Dad wohnen, und wir sehen uns nur an den Wochenenden. Jetzt kannst du entscheiden, was du möchtest. Entweder du kommst mit mir nach Ottawa und wir leben mit Onkel Tom zusammen, oder wir bleiben hier und du lebst weiterhin bei Dad.« Die Grundfrage war einfach: Möchtest du mit Mom oder mit Dad leben? Jedenfalls dachte ich damals, dass sie einfach sei.

      Ich war acht Jahre alt und sollte entscheiden, wo ich leben wollte. Sollte ich in die neue, fünf Stunden entfernte Stadt ziehen und dort mit Mom leben oder lieber hierbleiben und bei Dad und seiner neuen Familie leben, während Mom im Krankenhaus ist? Ich musste mich sofort entscheiden. Soweit ich mich erinnere, wusste ich nicht wirklich, was ich tun sollte. Ich liebte beide Elternteile, ich wollte mit beiden leben und keinen von beiden verletzen oder enttäuschen. Doch wie auch immer ich mich entscheiden würde, einer von beiden wäre enttäuscht, und ich musste die Entscheidung treffen.

      Wenn ich in meiner Erinnerung zu diesem Moment zurückkehre, so weiß ich nicht wirklich, welche Gefühle ich dabei hatte. Ich glaube, es war eine Kombination aus allem, aus Traurigkeit, Wut, Angst und Enttäuschung. Trauer, weil ich gern mit beiden leben wollte. Wut, weil ich diese absurde Entscheidung fällen sollte, weil ich in dieser absurden Situation war und mich fragte, warum ich nicht einfach eine normale Kindheit haben konnte? Angst, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Enttäuschung darüber, dass es so weit gekommen war. Alle diese Emotionen und Gedanken rasten durch meinen Kopf. Sie veränderten sich ständig und sprangen alle paar Sekunden von einem zum anderen. Doch ich habe nicht geweint. Ich blieb nach außen hin stark, wie ich es immer tat.

      Ich entschied mich, bei Mom zu bleiben. Sie gab mir die Versicherung, dass ich Dad jederzeit sehen konnte, wann immer ich wollte. Mit meiner Entscheidung begann unsere Flucht nach Ottawa. Moms Wohnung lag nur um die Ecke, daher holten wir dort ein paar persönliche Sachen und fuhren dann zum Krankenhaus. Da es für Kinder nicht möglich war, im Krankenhaus zu übernachten, mussten die Ärzte Mom sofort entlassen. Sie gaben ihr Medikamente, mit denen sie vorerst einige Zeit auskam, bis sie einen Arzt in Ottawa gefunden hätte, und sie gaben ihr eine Kontaktadresse. Dann meinten die Ärzte, dass Mom nicht mehr in derselben Nacht nach Ottawa fahren, sondern bei Freunden übernachten und am nächsten Tag bei Tageslicht fahren solle. So fuhren wir zu der Wohnung von Freunden und blieben dort über Nacht.

      Am nächsten Tag traten Mom und ich unsere Reise nach Ottawa an. Wir waren nie zuvor dort gewesen, und alles, was wir hatten, um den Weg zu finden, waren ein paar Sätze, die Moms Bruder ihr am Telefon mitgeteilt hatte. Wir fuhren los und hofften und beteten, dass unser kleiner, lieber Datsun die Prüfung bestehen und uns sicher nach Ottawa bringen würde. Der Datsun hatte eine grasgrüne Farbe und war so alt und verrostet, dass auf der Beifahrerseite ein Loch im Boden war. Ich weiß noch, wenn es regnete, dann war Wasser auf dem Boden des Autos, und ich musste meine Füße zur Seite halten. Doch es war unser kleiner, »grüner Frosch«, und er brachte uns immer dahin, wohin wir wollten. Wir drückten die Daumen, dass er es diesmal auch tun würde.

      Es war Sonntag und irgendwann im Laufe des Tages rief Mom Dad an und sagte, dass ich noch eine Nacht bei ihr bleiben und sie mich am Montagmorgen zur Schule bringen würde.

      Mir kam es so vor, als würde die Fahrt nach Ottawa niemals enden, verständlich für eine Achtjährige, die gerade eine dramatische, lebensverändernde Situation durchlebte. Ich erinnere mich, dass wir einmal neben einer Autobahnraststätte anhielten. Es war bereits dunkel, und als wir auf den Parkplatz fuhren, sahen wir als einzige geparkte Fahrzeuge nur riesige Lastwagen. Wir zögerten, als Mom parkte. Dies mochte nicht der beste Ort für eine junge Mutter sein, die allein mit ihrer Tochter unterwegs war. Doch wir mussten dringend die Toilette aufsuchen. Als wir hineingingen, drehten alle Lastwagenfahrer die Köpfe in unsere Richtung und schauten auf die einzigen beiden weiblichen Personen vor Ort. Da waren zehn grobe Lastwagenfahrer und eine junge Frau mit ihrer kleinen, aber älter aussehenden Tochter, mitten in der Nacht, weit abseits aller Zivilisation. Das war nicht die beste Situation, in der wir uns hätten befinden können. Wir setzten unsere ernsteste und strengste Miene auf und gingen direkt auf die Toilette. Mom bestellte einen Kaffee to go und bald waren wir wieder auf der Straße. Spät am Abend kamen wir in Ottawa bei Onkel Tom an.

      Der neue Tag begann mit einer neuen Stadt, einem neuen Haus, einem neuen Zimmer und neuen Leuten. Die einzigen Menschen, die wir in Ottawa kannten, waren Onkel Tom und seine Frau Nancy. So, und was nun? Mom rief ihre Ärzte im Krankenhaus in Toronto an, um sie wissen zu lassen, dass wir wohlbehalten in Ottawa angekommen waren und dass es uns gut ging. Für das nächste Telefongespräch versammelten sich alle gemeinsam am Tisch. Mom nahm das Telefon, wählte und sagte: »Hi, ich bin’s. Bianca ist nicht in der Schule. Sie ist bei mir und wir sind beide bei meinem Bruder in Ottawa. Wir bleiben auf unbestimmte Zeit hier. Wir werden es Bianca ermöglichen, dich zu besuchen, wann immer sie möchte.« Es war mucksmäuschenstill. Alle warteten gespannt darauf, was als Nächstes passieren

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