Ich glaubte immer an die Kraft in mir. Bianca Sissing
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Später rief ich Dad an und schilderte ihm die Situation. Er meinte, dass es auch ihm nicht möglich gewesen wäre, Mom zu erreichen, und weil wir damals noch keinen Anrufbeantworter hatten, konnte er auch keine Nachricht hinterlassen. Doch er meinte, dass sie eigentlich wissen müsste, wann ich ankomme, weil ich meistens zur selben Zeit ankam. Ich verließ Toronto immer um 16.00 Uhr und kam gegen 21.30 Uhr in Ottawa an. Vielleicht war sie zu spät los und auf dem Weg. Damals gab es keine Möglichkeit, Mom zu erreichen. Ich wartete eine weitere halbe Stunde. Keine Mom! Ich rief Dad wieder an. Inzwischen war es etwa 22.30 Uhr. Ich war zwölf Jahre alt und Sonntagnacht allein mitten in der Stadt im Busbahnhof. Ein paar Nachzügler schwirrten herum, aber das waren keine Leute, mit denen ich allein in einem Busbahnhof hätte sein wollen. Wir mussten eine Entscheidung treffen. Ich konnte hier nicht so lange allein sitzen. Das war zu gefährlich. Dad und ich entschieden dann, dass es das Sicherste wäre, wenn ich nach Toronto zurückkehren würde. Der nächste Bus fuhr in zwei Stunden, eine halbe Stunde nach Mitternacht. Und es war ein regionaler Bus, das hieß, dass er auf dem Weg in vielen Städten halten und sieben Stunden brauchen würde. Das wäre nicht sehr angenehm. Doch es war das Einzige, was ich tun konnte.
Während der nächsten zwei Stunden versuchten wir beide, Mom zu Hause anzurufen. Keine Mom. Um 0.30 Uhr bestieg ich den Bus zurück nach Toronto. Ich schlief im Bus so gut und so viel ich konnte. Doch jedes Mal, wenn er anhielt, wachte ich auf, und er hielt etwa alle vierzig Minuten. Ich war also sehr erschöpft, als ich in Toronto ankam. Es war 7.30 Uhr. Dad holte mich ab und nahm mich mit in sein Haus. Ich ging schlafen und er ging arbeiten. Als ich etwa zur Mittagszeit aufwachte und mit Dad sprach, sagte er, dass er endlich mit Mom telefoniert hätte und dass ich sie zu Hause anrufen solle. »Hallo?«
»Ja, ich bin’s.«
»Schatz, ist alles in Ordnung? Es tut mir sooo unendlich leid! Ich war …«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich war enttäuscht, traurig, wütend und auch froh, dass es ihr gut ging. Ich wusste nicht, ob etwas Schlimmes mit Mom passiert war und warum wir sie nicht hatten erreichen können. Dieses Verhalten war nicht typisch für sie und dann denkt man automatisch an das Schlimmste. Vielleicht hatte sie irgendwo eine Panikattacke oder einen psychischen Zusammenbruch und brauchte Hilfe? Gedanken wie diese waren immer in meinem Kopf. Ich antwortete halb besorgt und halb abrupt: »Wo warst du? Ich dachte schon, es sei dir etwas zugestoßen.«
Es war ein langes Wochenende gewesen, Montag war ein Feiertag. Ich hatte keine Schule, aber Dad musste arbeiten. In Toronto hatten Dad und ich gedacht, es sei logisch, dass ich Sonntag zurückfahren würde, weil er am Montag ohnehin arbeiten musste. In Ottawa dachte Mom, dass ich einen Tag länger bleiben würde, weil es ein langes Wochenende war. Sie war mit Freunden zusammen gewesen. Am späten Montagnachmittag bestieg ich in Toronto erneut den Bus und fuhr wieder nach Ottawa zurück.
Dieses Erlebnis ließ mich psychisch etwa drei Jahre älter werden. In diesen Stunden lernte ich, dass ich, egal was ich fühlte, ob ich Angst hatte, wütend war, traurig oder müde, stark aussehen musste, damit mich niemand belästigt. Ich musste stark sein, um diese Nacht zu überstehen. Ich durfte nicht traurig oder unsicher wirken, damit mich niemand belästigt. Ich musste so ruhig und gesammelt bleiben wie möglich, um nicht bemerkt zu werden, musste mir den Anschein geben, dass alles so war, wie es sein sollte, um so wenig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen wie möglich. Ein 12-jähriges Mädchen allein, mitten in der Nacht, mitten in der Stadt. Das war keine schöne Situation. Ich musste wach bleiben. Ich musste ruhig bleiben. Ich musste das Pokergesicht aufsetzen und so wirken, als ob alles in Ordnung wäre. Aber innerlich war ich ein hundemüdes junges Mädchen, das nur ihre Mom sehen und zu Hause ins Bett gehen wollte.
Nach diesem Vorfall bekam ich einen Wohnungsschlüssel und wir einen automatischen Anrufbeantworter.
Ich fuhr diese Strecke zwischen Ottawa und Toronto hin und her, bis ich mit 18 Jahren das Gymnasium verließ und zur Universität ging.
Obdachlose
»Das Leben ist wie ein Wassertropfen. Es bewegt sich, es verändert sich und transformiert. So wie wir ohne Wasser nicht leben können, so können wir nicht ohne Veränderung leben.«
Manchmal kann etwas, das süß beginnt, sich allmählich zu etwas Saurem entwickeln. So etwas passierte traurigerweise, als wir mit meinem Onkel und seiner Frau zusammenlebten. Am Anfang war es richtig schön, wie in einer kleinen Familie.
Wir genossen zusammen den Sommer. Ich versuchte ein paar Mal, mit meinem Onkel zu joggen. Manchmal haben wir zusammen gekocht, machten Popcorn oder schauten uns Filme an. Mein Onkel fing sogar an, mir zu zeigen, wie man elektrische Gitarre spielt. Im Herbst ging ich wieder zur Schule, die ziemlich weit von unserem Wohnort entfernt auf dem Land lag. Der Schulbus holte mich morgens ab und brachte mich nach der Schule wieder nach Hause.
Aber manchmal war es nicht mehr schön, dann hatten Mom und mein Onkel Unstimmigkeiten. Ich erinnere mich daran, dass sich mein Onkel eines Tages in der Einfahrt in Moms Auto setzte und das Auto in seiner eigenen Garage zerdepperte. Frag mich nicht, wie und warum das passiert ist. Es ist passiert. Unser kleiner Frosch lag in Trümmern. Das Auto war so alt und verrostet, dass es sich nicht mehr lohnte, es zu reparieren. Die Reparatur hätte zu viel gekostet, sodass es billiger gewesen wäre, ein »neues« gebrauchtes Auto zu kaufen, wenn man das Geld gehabt hätte. Das hieß also, dass Mom nicht einmal mehr ein Auto hatte.
Ich weiß, ein Auto ist nur ein Auto, ein materieller Besitz. Aber wenn du arm bist, ist ein Auto viel mehr als eine Metallkiste auf Rädern. Für uns war unser Datsun ein Symbol von Freiheit, ein Vergnügungsobjekt und Teil unserer kleinen Familie. Wir konnten uns jederzeit ins Auto setzen und fahren, wohin wir wollten. Wir wussten, dass es immer für uns da war, um uns dahin zu bringen, wo auch immer wir hinmussten. Das war wie ein Stück Freiheit. Manchmal haben wir uns ins Auto gesetzt und sind einfach drauflos gefahren. Wir unternahmen Abenteuerfahrten und erkundeten neue Nachbarschaften. Wir konnten unsere Freunde besuchen, wenn wir uns nicht wohl dabei fühlten, dass sie zu uns kamen. Unser Auto war unsere Unterhaltung und unser Vergnügen.
So ging die Stimmung hoch und runter. Alle haben sich sehr bemüht, es vor mir zu verstecken. Doch ich konnte fühlen, wie sich die Spannung aufbaute. Eines Nachts war es, als wenn eine Bombe explodierte.
Und dann erlebte ich eine der dramatischsten Erfahrungen in Bezug auf Wohnsituationen – wir hatten ganz plötzlich keine Unterkunft mehr.
Mom war seelisch immer noch instabil und nicht in der Lage zu arbeiten. Also lebten wir von ein paar Dollar pro Tag vom Amt. Wir wohnten jetzt seit etwa fünf Monaten bei Tom und Nancy. Es hatte bereits ein paar unangenehme Zusammenstöße gegeben, und in dieser besonderen Nacht explodierte alles, und die Milch wurde sauer. Ich kann mich nicht daran erinnern, was genau in dieser Nacht passierte. Ich war erst neun Jahre alt und sehr schüchtern. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass Mom und ihr Bruder eine Auseinandersetzung hatten und sehr aufgebracht waren. Mom fühlte sich in dem Haus nicht mehr sicher und hatte das Gefühl, dass sie es sofort mit mir verlassen müsste. Wir hatten kein Auto. Wir hatten kein Geld für ein Taxi, für ein Hotel oder für irgendetwas anderes, und trotzdem wollte Mom nur weg.
Mom rief die Polizei an, die auch sofort kam. Sie versuchte, die Situation für uns alle zu bereinigen. Doch diese war zu verfahren und