Der Schlüssel zur anderen Welt. Jörg Kressig

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Der Schlüssel zur anderen Welt - Jörg Kressig

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bemerkte ich, wie ein süßer Duft durch den Raum zog. Er war sehr vertraut. In meinem halb bewussten Zustand realisierte ich, dass dieser Duft derselbe war wie der des blumigen Parfüms meiner Großmutter, das sie getragen hatte, als ich noch ein kleiner Junge war.

      Als ich so dalag, rief ich mir die glücklichen Erinnerungen ins Gedächtnis, die mich mit ihr verbanden, und die Eindringlichkeit des Dufts. Ich drückte die Augen fest zu. Ich hatte Angst, dass, wenn ich sie wieder öffne, diese kostbare Verbindung zu meiner Großmutter sich auflösen würde. Ich fühlte, wie ich in die Ausläufer eines Traums rutschte.

      Plötzlich war ich hellwach: Ich war nicht allein im Zimmer. Gerade, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich ein Licht. War es der Scheinwerfer eines Autos, der von der Straße hereinschien? Ich rieb mir die Augen. Am Fuß meines Betts war eine Gestalt erschienen. Sie sah wie eine beträchtlich jüngere Version meiner frisch verstorbenen, alten Großmutter aus. Bis heute bin ich verblüfft, wie ruhig mein zehnjähriges Selbst bei diesem Ereignis blieb. Meine tote Großmutter stand am Fuß meines Betts und lächelte, in goldenes Licht gehüllt. Obwohl sie vierzig Jahre jünger aussah, als ich sie kannte, war ihre Essenz unverwechselbar.

      Ich war von ihrem Strahlen verzaubert. Vor ihrem Tod hatte sie monatelang mit Krebs gerungen, ihre Haare verloren und konnte nicht mehr aufstehen. So, wie ich sie jetzt sah, hatte sie wunderschönes, leicht gelocktes blondes Haar, jugendliche, rosige Wangen und gütige Augen. Ich sah sie so, wie sie sich selbst sah. Bevor ich verarbeiten konnte, was ich sah, wurden meine Gedanken von einer Stimme unterbrochen, die ich liebte.

      »Es gibt nicht viel, aber die Halskette in dem braunen Kästchen gehört dir«, sagte sie. »Das ist nur Zeug. Wir sehen uns wieder.«

      Ich starrte sie verblüfft an. Wie leger sie doch wirkte und ihr Verhalten war ganz so wie im Leben. Ihre Stimme hatte den gütigen, beruhigenden Klang, der mir so vertraut war. Das Licht um sie her dehnte sich aus und sie machte einen Schritt nach vorn. Ich fühlte, wie ihre warme Umarmung mich umgab und ihre wortlose Botschaft: Ihre Liebe zu mir transzendierte selbst den Tod.

      Ich kannte meine Großmutter nur ein Jahrzehnt ihres Lebens und doch schien ihre Präsenz ein ganzes Leben an Erinnerungen zu kommunizieren. Es war eine Erfahrung, die ich bis heute wie ein Kleinod hüte. Nicht nur, dass ich sie so loslassen konnte, nein, ich gewann auch eine neue Perspektive. Ich sah sie auf eine Art und Weise, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Obwohl unsere Begegnung kurz war, blitzten so viele lebhafte Eindrücke auf, einfach nur, indem ich in ihrer Nähe war. Bis zu diesem Punkt hatte ich nie begriffen, dass Botschaften auch wortlos übermittelt werden konnten. Diese Botschaften kamen in Form von Bildern, die anfangs nur geringe persönliche Bedeutung für mich hatten: eine goldene Halskette in einem Holzkästchen, die sich in einen farbenfrohen Marienkäfer verwandelte und eine Explosion roter Rosen. Ich hatte keine Kontrolle über diese Bilder und verstand sie auch nicht. Sie tauchten in meinem Geist so lebhaft auf wie eine frische Erinnerung.

      Meine Begegnung mit meiner Großmutter war scheinbar genauso schnell vorbei, wie sie begonnen hatte. Ich erlebte die Leere in meinem Zimmer – die vorige Wärme der erneuerten Verbindung, die es einen surrealen Moment lang erfüllt hatte, kam zu einem abrupten Ende. Diese Minuten hatten sich zeitlos angefühlt, als wäre ich direkt in die Ewigkeit transportiert worden. Jetzt stand das Licht, das mir so viel Freude gemacht hatte, in scharfem Kontrast zur Dunkelheit. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte sich dieser Moment so an, als sei sie ein zweites Mal gestorben. Jahre später sollte ich lernen, dass einige Menschen, die hinübergehen, ihre Lieben nicht direkt nach dem Hinscheiden besuchen. Sie wollen nicht, dass einer ihrer Lieben, der nicht darauf vorbereitet ist, eine zweite Welle des Verlusts erlebt, wenn der Besuch endet. Ich glaube, dass die Verstorbenen wissen, wie weit wir in unserem Trauerprozess sind und ob wir bereit sind, ihre Signale zu empfangen. Andrerseits übermitteln sie manchmal Botschaften an ihre Lieben als Teil des Loslösungsprozesses der Seele, um auch selbst loslassen zu können.

      Als ich so dalag und zu verarbeiten versuchte, was ich gerade erlebt hatte, überlegte ich, ob ich meinen Eltern von meiner Begegnung erzählen sollte. Ich wusste, dass ich in dieser sensiblen Zeit vorsichtig sein musste, und hatte keine Vorstellung, wie sie reagieren würden. Meine tote Großmutter hatte mich in einem Wachtraum besucht und ich hatte keinerlei Zweifel, dass es sich dabei um eine reale Interaktion gehandelt hatte. Das war mein erstes spirituelles Erwachen – von einem buchstäblichen Erwachen nicht zu reden. Ich wusste es zu schätzen, dass ich bei der ersten geliebten Person, die ich verlor, so eine starke Verbindung gespürt hatte und sie daher loslassen konnte. Und dennoch hatte ich nach ihrem Besuch weit mehr Fragen als Antworten.

      In meiner Familie war es kein Thema, ob Seelen nach dem Tod zu einer Kommunikation mit uns in der Lage sind. Ich wusste daher nicht, ob meine Eltern meine Interaktion tröstlich oder verstörend finden würden, besonders in Hinblick darauf, dass ich den Tod meiner Großmutter vorhergesagt hatte. Meine Eltern gingen beide in die Kirche und die Leute in meinem weiteren Familienkreis waren tief religiös und hatten rigide Glaubenssätze. Daher hatte ich damit zu kämpfen, meine Erfahrung in den Überzeugungsrahmen meiner Familie einzuordnen. Wenn es nach dem Tod nur Himmel und Hölle gibt, wie konnte dann meine kürzlich verstorbene Großmutter plötzlich bei mir im Zimmer stehen?

      Damals kam ich zu dem Schluss, es sei das Sicherste, meine Visionen für mich zu behalten. Ich begann, selbst nach Antworten zu suchen. Ich fragte mich, warum meine Großmutter bei all den Botschaften, die sie hätte schicken können, solches Gewicht auf eine Halskette legte. Und dann noch dazu eine, von der ich nicht einmal wusste, und in Form einer Botschaft, die wenig Sinn ergab. Wir hatten gemeinsame Erinnerungen, die sich über zehn Jahre erstreckten, aber sie hatte keine davon erwähnt. Stattdessen sagte sie, man solle sich nicht mit materiellem »Zeugs« aufhalten. Das war verwirrend, weil ich – mit meinen zehn Jahren und ohne große sentimentale Veranlagung – überhaupt kein Bedürfnis nach etwas hatte, wodurch ich mich an meine Großmutter erinnern konnte, und noch viel weniger nach etwas, um das viel Aufhebens gemacht werden würde.

      Das war der erste Vorbote einer Lebenszeit von medialen Sitzungen, in denen Botschaften kamen, deren Inhalt ich einfach nicht verstand. Und immer wieder sollte ich erfahren, dass der Kontext nicht entscheidend dabei ist, wenn es darum geht, ein Leiter zu sein. Das Vertrauen darauf, dass das, was ich intuitiv interpretierte, auch ohne Analyse real war, war der erste Schritt, die Gültigkeit der Botschaften auf die Probe zu stellen.

      Die nächsten paar Tage über bereitete meine Familie das Begräbnis meiner Großmutter vor. Ich wollte nicht in die Kirche zur Beerdigung. Nur ein paar Tage zuvor hatte ich die tiefste Art von Loslassen erfahren, die sich ein Mensch wünschen konnte. Obwohl ich nicht ganz begriff, was meine Erfahrung bedeutete, stellte ich nie ihre Realität in Frage. Den ganzen Gottesdienst über beobachtete ich Leute, die ich nicht kannte, dabei, wie sie von Herzen kommende Grabreden auf meine Großmutter hielten. Während ich zusah, wie die einzelnen Leute zum Podium gingen, verstand ich, dass meine beste Freundin, Anwältin und der Mensch, der mir am nächsten gestanden war, das Leben all der Leute verändert hatte, mit denen sie in Kontakt war. Deren Augen strahlten einen Verlust aus, dem Worte nicht gerecht werden konnten. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, es zu versuchen. Und der Geist meiner Großmutter? Der war nirgends zu sehen. In diesem Moment wurde mir klar, dass Beerdigungen in Wahrheit für die Lebenden sind.

      Wir gingen zum Friedhof und meine Cousine stand neben mir. Kurz darauf landete ein Marienkäfer auf ihrem Finger und saß die ganze Zeremonie über dort. Als sie versuchte, ihn abzuschütteln, flog er stur zurück auf ihre Hand und dann auf meine. Wir achteten mehr auf diesen anhänglichen Käfer als auf den Prediger am Podium. Gegen Ende des Gottesdienstes bemerkte meine Tante, wie abgelenkt wir waren. Sie sagte, der Käfer könnte ein Zeichen von meiner Großmutter sein. Kaum hörte ich die Worte, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Es ist dasselbe Gefühl, das ich heute bekomme, wenn eine Botschaft als korrekt bestätigt wird. Als wir den Friedhof verließen, lagen dutzendweise rote Rosen vor dem Sarg meiner Großmutter. Ich fühlte denselben Schauer wie zuvor. Zwei von drei meiner Visionen waren innerhalb

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