Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer
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Am 27. November 1913 veröffentlichte Lucien Daudet, der den Text bereits aus den Fahnen kannte, eine enthusiastische und einfühlsame Besprechung im Figaro; darin hebt er neben anderen auch den amüsanten Aspekt des Textes hervor: »Marcel Prousts Analysen […] stehen so perfekt im Einklang mit einer überwältigenden Sensibilität, dass die beiden untrennbar zusammengehen sowohl bei schmerzlichem Empfinden wie auch bei Ironie, und wir schließlich […] meinen, dass seine Analyse unsere Gefühle freisetzt und seine Sensibilität unser Lachen.« Zum Stil steuert Daudet eine Beobachtung bei, die den Übersetzer ständig in den Konflikt zwischen Texttreue und Inhaltstreue stürzt: »Der Stil von Marcel Proust befindet sich in vollkommenem Einklang mit seinem Denken: mit einer skrupulösen Präzision erfüllt er unaufhörlich in unglaublicher Weise unsere Erwartungen hinsichtlich der Beziehung zwischen einem Eindruck und seinem Ausdruck.« Es ist dies wohl die schwierigste Hürde bei einer Übersetzung, denn so mancher französische Ausdruck neigt dazu, nach Übersetzung nicht mehr den Eindruck zu liefern, dem er im Original entsprach. In seinem Résumé schließlich schreibt Daudet: »Man kann ganz schlicht sagen, dass später einmal, vielleicht sehr viel später, Marcel Prousts Buch, wenn man von ihm spricht, als eine außergewöhnliche Manifestation menschlichen Verstandes im zwanzigsten Jahrhundert erscheinen wird.« (Übers. nach L. Daudet, Autour de soixante lettres de Marcel Proust, 1929.)
Bereits am 3. Dezember 1913 erschien auch eine Besprechung im Times Literary Supplement von Mary Duclaux (1857–1944), die sich schwerpunktmäßig mit literarischen Kindheitserinnerungen befasste und sich begeistert zeigt von der Darstellung des Knaben Marcel: »Von allen diesen Büchern [bis vielleicht auf zwei] ist das zarteste, das mit einer außerordentlich tiefen Empfindsamkeit gesättigtste, umfassende und doch für das Erleben von Krankheit oder die ersten Eindrücke der Kindheit sensible, ein gewaltiger Roman […] von Marcel Proust […]. Das Buch, mit dem man ihn am ehesten vergleichen könnte, wäre Henry James’s A Small Boy, obwohl dieses ganz entschieden schlicht und kompakt ist verglichen mit Marcel Prousts Versuchen, die undeutlich schillernden Eindrücke eines jungen Geistes zu rekonstruieren, das – uns unerklärliche – Staunen, mit dem er Orte und Personen betrachtet, die in unseren Augen keinerlei Zauber ausüben.« Als Beispiel zitiert sie die Träumerei, in die Marcel versinkt, als seine Mutter ihm erzählt, sie habe Swann in den Trois-Quartiers getroffen, der einen Schirm kaufen wollte (WS, S. 567), und schließt: »Etwas Älteres und Tieferes als Wissen erfüllt dieses Buch.« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 89–92.) Mary Duclaux hatte übrigens für Proust während des Ersten Weltkrieges eine Patenschaft für Soldaten übernommen.
Nach diesen Elogen meldeten sich allerdings auch weit weniger begeisterte Stimmen. So erschien im Figaro am 8. Dezember eine weitere Rezension, diesmal von Francis Chevassu (1862–1918), der Swann als eine kaum verhüllte Autobiographie liest: »Das Fehlen einer Handlung und das kapriziöse Wesen der Komposition zeigen darüber hinaus, dass es Marcel Prousts geringster Wunsch war, sich auf das zu beschränken, was für gewöhnlich die Betrachtung des Lebens genannt wird. Man wird wohl eher zu dem Schluss kommen, dass das, was er schreiben wollte, eine angenehme und bilderreiche Autobiographie war, aber in einem ungewöhnlichen Format.« Die von Duclaux so überschwenglich gelobte Kindheitsdarstellung sieht Chevassu in einem anderen Licht: »In Marcel Prousts Buch bleiben seine Erinnerungen in einem unberührten Zustand und sind klar umrissen; und doch ist ihnen das Empfinden des erwachsenen Mannes, der sie wachruft, unweigerlich aufgeprägt; dieses Empfinden führt zu keiner Veränderung; es setzt sie lediglich fort in einer träumerischen Stimmung oder illustriert sie mit einem zarten, feinsinnigen Humor; im Gegensatz zum üblichen Vorgehen ist es hier die Gegenwart, die der Vergangenheit ihre Ausstrahlung verleiht.«
Auch Le Temps schob am 10. Dezember eine zweite Kritik nach, diesmal von dem anerkannten und einflussreichen Literaturkritiker Paul Souday (1868–1929). Trotz des scharfen Tones dieser Kritik (»Enthält durchaus glänzende Partien, aus denen der Autor ein recht hübsches Büchlein hätte machen können«) war Proust erfreut über die Publizität, die sie ihm verschaffte, jedoch indigniert über den Vorwurf, schlechtes Französisch zu schreiben. Soudays Mängelrügen bezogen sich jedoch fast ausschließlich auf Fehler, die jedermann mühelos als Satz- oder Druckfehler erkennen könnte, so er denn wollte. Aus heutiger Sicht etwas befremdlich nimmt sich eine Bemerkung gegen Ende von Soudays Besprechung aus: »Den nächsten Band erwarten wir mit Wohlwollen und in der Hoffnung, etwas mehr Ordnung und Strenge zu finden und einen etwas ausgefeilteren Stil.« Wie ausgefeilt denn noch? Der emimente britische Literaturwissenschaftler Leighton Hodson bemerkt dazu, wie auch zu den Rufen nach mehr Ordnung und Strenge, die allerdings auch schon bei anderen Kritikern zu hören waren: »Veränderungen im geistigen und künstlerischen Klima erklären zum Teil, was heutige Leser wahrzunehmen vermögen. Die Erklärung besteht zum Teil darin, dass Prousts Genie von 1896 an [dem Erscheinen von Les Plaisirs et les Jours] dem künstlerischen Verständnis seiner Leser weit vorauseilte« (Hodson, Heritage, S. 36).
Übrigens antwortete Proust Souday am nächsten Tag mit einem spöttischen Brief, in dem er genüsslich auf eine falsche Zuschreibung und obendrein falsche Deutung eines lateinischen Zitats hinwies, das Souday in seiner Kritik verwendet hatte: unter Aufnahme von Soudays Empfehlung, einen pensionierten Akademiker einzustellen, der seine Grammatik kontrolliert, empfiehlt Proust Souday (»ich hoffe, Sie nehmen mir diese kleine Bosheit nicht übel«), jemanden einzustellen, der seine lateinischen Zitate überprüft: »Er würde nicht versäumen, Sie darauf hinzuweisen, dass Materiam superabat opus nicht von Horaz stammt, sondern von Ovid, und zudem nicht als Rüge, sondern als Lob verwendet wurde« (Corr. XII, S. 380–383). Die kleine Gemeinheit wurde nicht verziehen, wie man sieben Jahre später in Soudays Rezension von Guermantes I nachlesen kann (s. unten).
Offenbar verärgert über die Lobhudelei der Freunde Prousts in den ersten Kritiken, stößt Lucien Maury (1872–1953) in der Revue politique et littéraire am 27. Dezember 1913 in dasselbe Horn: Nachdem er erst einmal Lucien Daudets Charakterisierung Prousts als »Genie« auf menschliches Maß zurechtgestutzt hat (»ich würde eher sagen, dass er eine ganze Menge Talent hat«), fährt er fort: »Eine ausgedehnte Fläche klaren Wassers, das all die Großartigkeit einer ausgedehnten, vielfältigen Landschaft widerspiegelt, mag sich als nicht so sehr tief erweisen; wir werden angezogen von seiner Durchsichtigkeit, dem Zauber dieser glatten und trügerischen Oberfläche. […] Die Anziehungskraft von Prousts Geist beruht auf ähnlichen Eigenschaften.« An Prousts Stil bemängelt er die »konturlosen Sätze, in denen Klammereinschübe und Nebensätze ziellos umherwandern in einem ungezügelten ›Jeder-kann-mitmachen‹« und spricht von »kakophonischem Schreiben« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 101–104).
Gaston de Pawlowski (1874–1933) hebt in seiner Rezension vom 11. Januar 1914 für die Zeitschrift Comædia, S. 3, wohl erstmalig in dieser Deutlichkeit die psychologische Durchdringungskraft Prousts hervor, dessen Analysen er geradezu als Neuland empfindet: »Wir haben uns weit von der bruchstückhaften, lediglich beschreibenden Psychologie der Romanciers entfernt, die wir in unserer Jugend genossen haben. […] Dies ist Psychologie, die dem Studium von Bakterien unter