Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer
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Unter dem Schutzschirm der »Progressivität« konnten schließlich die oben erwähnten avantgardistischen Autoren von Goslitisdat einen Stimmungswandel in ihrem Verlag herbeiführen und das Proust-Projekt wiederbeleben. Boris Grifzow fragte Frankowski im Auftrag von Goslitisdat, ob er eine Gesamtübersetzung erstellen wolle; dieser teilte sich den Auftrag mit dem nicht minder ausgewiesenen Übersetzer Andrej Fjodorow (1906–97). Beide waren aber wohl trotz ihrer Erfahrung mit dem Auftrag überfordert, denn in ihren Übersetzungen sind häufig grammatische Konstruktionen in bedenklicher Weise vereinfacht und schwierige Partien gelegentlich sogar einfach ausgelassen. Die ersten vier Bände dieser Übersetzung erschienen 1934–38; als jedoch Frankowski gerade seine Übersetzung der Gefangenen abgegeben hatte, verschärfte sich durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der politische Wind in Russland abermals, und das Typoskript sollte aus ideologischen Gründen vernichtet werden; Frankowskis Mitarbeiterin Raissa V. Frenkel gelang es jedoch, das Typoskript (oder aber eine übersehene Kopie) 1940 aus den Verlagsarchiven zu entwenden und, nachdem Frankowski während der Blockade Leningrads 1942 verhungert war, zu verwahren. Ihre Erbin Sofia Poljakowa reichte das Manuskript schließlich 1992 an den Moskauer Verlag Inapress weiter, der diese Gefangene Frankowskis 1998 im Rahmen einer kommentierten Neuausgabe der Übersetzung Frankowski/Fjodorow herausgab.
1963 wurde der Goslitisdat-Verlag in Isdatelstwo Chudoshestwennaja Literatura (Verlag für fiktionale Literatur, kurz »Chudosh« oder IKL) umbenannt; die verschiedenen Umbenennungen und Zusammenschlüsse von Verlagen erklären übrigens, warum in Literaturhinweisen oft voneinander abweichende Verlagsangaben bei demselben Buch gemacht werden. Anfang der Siebziger beschloss Chudosh, das Proust-Projekt wieder aufzunehmen, und bot dem Literaturwissenschaftler und Übersetzer klassischer französischer Literatur, Nikolai Ljubimow (1912–92), den Auftrag an. Die ersten drei Bände dieser Übersetzung erschienen noch in einigermaßen enger Folge – 1973, 1976 und 1980 –, Sodom und Gomorrha jedoch, das bereits 1982 fertig übersetzt war, wurde von der Sitten-Zensur bis 1987 aufgehalten, und die Gefangene, die 1988 druckfertig war, konnte erst 1989 nach umständlichen Verhandlungen für einen neuen Vertrag erscheinen. 1990 dann wurde Chudosh zahlungsunfähig, und Ljubimow wechselte zu dem kleinen Privatverlag Krus. Über diesen Verzögerungen ließen Ljubimows Kräfte mehr und mehr nach, so dass seine Übersetzung der Entflohenen, die er vor seinem Tod 1992 noch abschließen konnte, nicht mehr die von den anderen Bänden gewohnte Qualität und zudem erhebliche Lücken aufwies. Ljubimow schrieb deshalb ein Nachwort, in dem er die Mängel seiner Übersetzung auf das Original abwälzte, was ja bekanntlich nicht völlig unbegründet ist, aber bei weitem nicht deren Umfang in seiner Arbeit rechtfertigt; das Manuskript wurde deshalb von Tatjana Sikatschewa für den Krus-Verlag überarbeitet und erschien so 1993 im Rahmen eines Nachdrucks der Ljubimow-Übersetzung, wobei merkwürdigerweise Band V ausgelassen wurde. Kurz danach spaltete sich jedoch der Verleger A. V. Markowitsch vom Krus-Verlag ab und überredete Ljubimows Witwe, ihm das »unverfälschte« Manuskript zu überlassen, das dann 2001 im Amphora-Verlag erschien. Ljubimow hatte noch kurz vor seinem Tod den produktiven Übersetzer Waleri Nikitin mit der Fertigstellung seines Projekts beauftragt, doch auf eine Wiedergefundene Zeit aus Nikitins Hand wartet Russland noch heute vergeblich. Die Abspaltung Markowitschs oder auch das Proust-Projekt hat der Krus-Verlag übrigens nicht überlebt.
Das Moskauer Verlagshaus Natalis startete Ende der neunziger Jahre eine Übersetzung des noch fehlenden letzten Bandes, doch die Herausgeber nahmen so tiefgreifende Änderungen an dem Manuskript des Übersetzers vor, dass dieser sich schließlich weigerte, seinen Namen dafür herzugeben. Der Text erschien deshalb 1999 unter dem Pseudonym A. I. Kondratjew, fand aber keine Gnade bei der Kritik, die den Text streckenweise eher als Nacherzählung denn Übersetzung wahrnahm. Die Übersetzung von 2009 der anerkannten Literaturübersetzerin Alla Smirnowa für den Alfa-Kniga-Verlag wurde zwar besser aufgenommen, aber dennoch als unbefriedigend empfunden, insbesondere in den Partien mit komplizierterer Syntax, in der sich Smirnowa nach Ansicht der Kritik gelegentlich hoffnungslos verheddert.
2012 nahm Jelena Bajewskaja, die seit 1998 in den USA unter dem Namen Helen Bayes eine Professur für französische Literatur innehat, eine Neuübersetzung der Recherche in Angriff, da ihr die Gestückeltheit des russischen Textes von verschiedenen Übersetzern aus verschiedenen Perioden missfiel – »Proust hat nicht sieben Romane geschrieben, sondern einen, und er wollte, dass wir ihn auch als solchen lesen können« – und weil sie ohnehin der Auffassung war, dass jedes große Werk der Weltliteratur alle fünfzig Jahre neu übersetzt werden müsse, »da die Meisterwerke das Altern nicht mögen«48. Zudem war sie in den bekannten Übersetzungen auf zahlreiche Probleme gestoßen – auf deren syntaktische Unzulänglichkeiten war bereits hingewiesen worden –, die ihrer Ansicht nach der Bereinigung bedurften; so interpretiert sie schon den ersten Satz im Gegensatz zu Frankowski und zu Ljubimow, aber auch zu der gewohnten Lesart, in dem Sinne, dass der Erzähler sich lange Zeit nicht früh, sondern in der Früh schlafen gelegt habe49 – wie bekanntlich auch der Autor. 2013 erschien im Fremdsprachen-Verlag Azbuka-Attikus der erste Band der Bayes-Übersetzung, für den sie noch im gleichen Jahr den Maurice-Vaksmahera-Preis erhielt.
Mittlerweile werden im russischen Buchhandel etliche Gesamtausgaben angeboten, die sich aus verschiedenen der oben beschriebenen Bände zusammensetzen, wie auch diverse Ausgaben des ersten Bandes in der einen oder anderen Übersetzung mit immer neuen Vorworten. Die Prophezeiung aus dem Jahre 1924 des Pariser Korrespondenten der Literaturzeitschrift Zveno ([das Verbindungs-]Glied), Georgi Adamowitsch, beginnt, sich zu erfüllen: »Russland wird Proust lieben«.50
1927 Adrian Antonovič Frankovskij: V storonu Svana. [»Der Weg zu Swann.«] 3 Bde. Leningrad: Academia, 1927. [Nachdr. in 1 Bd. bei Azbuka, 2000.]
1927 Ljubov’ Gurevič / [unter Mitarb. von] Sofia Parnok (Übers.): Pod sen’ju devušek v cvetu. [»Im Schatten junger Mädchen in Blüte.«] Moskau: Nedra, 1927.
1928 Boris Grifcov (Übers.): Pod sen’ju devušek v cvetu. [»Im Schatten junger Mädchen in Blüte.«] Tl. 1. Leningrad: Academia, 1928. [Tl. 2 ist nicht erschienen.]
1934 Adrian Antonovič Frankovskij (Bd. I, III) / Andrej Fëdorov (Bd. II, IV) (Übers.): V poiskach utračennogo vremeni. [»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.«] Moskau: Goslitizdat, 1934–38.
1973 Nikolaj Michajlovič Ljubimov (Bd. I–V) (Übers.) / M. Tolmačev (Komm.): V poiskach utračennogo vremeni. Moskau: Chudožestvennaja Literatura, 1973–89.
1992 Nikolaj Michajlovič Ljubimov (Übers.) (Bd. I–IV, VI): V poiskach utračennogo vremeni. Komm. von O. Volček und Sergej Fokin. Moskau: Krus, 1992–93. [Bd. VI fertiggestellt von Tatiana Sikacheva.]
1992 Adrian Antonovič Frankovskij (Übers.) (Bd. I, III, V) / Andrej Fëdorov (Übers.) (Bd. II, IV): V poiskach utračennogo vremeni. Komm. Neuaufl. der Bde. I–IV von Goslitizdat 1934, 1935, 1936 und 1938, sowie von Bd. V aus dem Nachlass Frankovskijs. Moskau: Inapress, 1992–1998.
1999 A. I. Kondrat’iev (Pseudonym) (Übers.): Obretënnoe vremja. [»Die wiedergefundene Zeit.«] Moskau: Natalis, 1999. [Im Text illustrierte, komm. Ausg.]
2001 Nikolaj Michajlovič Ljubimov (Bd. I–VI) (Übers.): V poiskach utračennogo vremeni. Moskau: Amphora, 2001. [Bd. VI in der Originalfassung von Ljubimov.]