Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer
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Durch Robert de Montesquiou lernte Proust zahlreiche Mitglieder des französischen Adels kennen, die dann auch die eine oder andere Spur in der Recherche hinterlassen haben: nach dem Erscheinen des jeweils nächsten Bandes war es ein beliebtes Pariser Ratespiel, zu ermitteln, wer wohl wer sei. Die wichtigsten von Robert vermittelten Bekanntschaften waren die mit Boni de Castellane, Élisabeth de Clermont-Tonnerre und mit Maurice Barrès.
Der Marquis Boniface (»Boni«) de Castellane (1867–1932) war eine kaum weniger schillernde Figur als Montesquiou, warf allerdings noch ungehemmter mit Geld um sich als dieser. Dank seiner Ehe mit der Amerikanerin Anna Gould, der Erbin eines Eisenbahnmagnaten, schienen die Mittel unerschöpflich: am 2. Juli 1896 etwa gaben die Castellanes im Bois de Boulogne ein Fest für 3000 Gäste.5 Nach dem Bau eines Palastes aus rosa Marmor an der Avenue du Bois sahen die Dinge allerdings anders aus. Anna ließ sich 1906 von ihm scheiden, und Boni musste sich dazu bequemen, seine teuer erworbene Expertise mit erlesenen Sammlerstücken als Antiquitätenhändler für den Broterwerb zu nutzen.
Die Kochbuch-Autorin Duchesse Élisabeth de Clermont-Tonnerre (1875–1954) lernte Proust 1903 kennen; sie wurde bald zu einer seiner engsten Vertrauten. Élisabeth stand dem Dichterinnenkreis um Nathalie Barney nahe, der seinerseits Sappho nahegestanden haben soll und zu dem insbes. Lucie Delarue-Mardrus gehörte, die Frau des 1001 Nacht-Übersetzers Joseph-Charles Mardrus.
Den Politiker und Schriftsteller Maurice Barrès (1862–1923) schließlich lernte Proust 1891 vermutlich durch Montesquiou kennen; mit seinen nationalistischen Überzeugungen, die er in Wort und Schrift zum Ausdruck brachte, konnte Proust wohl nicht viel anfangen; dafür bewunderte er aber seinen leicht fließenden, durchrhythmisierten Stil. Barrès ist sicherlich neben Alphonse Daudet und Anatole France ein Leihgeber für den »style Bergotte«.
Reynaldo Hahn (1874–1947),6 ein empfindsamer, feinfühliger Sänger, Pianist und Komponist, der Proust bis an dessen Lebensende in einer zärtlichen Freundschaft verbunden blieb, war in gewisser Weise die Gegenfigur zu dem exaltierten, exzentrischen und extrovertierten Montesquiou. Hahn wurde in Caracas als Sohn einer baskischen Venezolanerin und eines jüdischen Kaufmanns aus Hamburg geboren, verließ aber bereits 1878 zusammen mit seiner Familie Venezuela in Richtung Paris. Dennoch sprach er fließend Spanisch »mit einem ausgesprochen heimatlichen Akzent« (so der kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier, der Hahn in den Dreißigern besuchte, am 16. August 1951 in der venezolanischen Tageszeitung El Nacional). Im Salon Lemaire spielte Hahn Lieder von Schubert, Schumann, Gounod sowie eigene Vertonungen von Gedichten Verlaines am Klavier; sein umfangreiches Œuvre wird noch heute zumindest in Frankreich hoch geschätzt. Hahn machte Proust mit der Musik von Saint-Saëns bekannt, dessen Sonate in d-Moll für Geige und Klavier mit Hahn am Piano im Salon Lemaire in Prousts Gegenwart aufgeführt wurde; die »kleine Phrase« daraus wurde zu einem Leitmotiv ihrer Freundschaft. In Ruskins Todesjahr und vermutlich anlässlich dieses Todes am 20. Januar 1900 unternahmen Proust und seine Mutter im Mai eine Reise nach Venedig, wo sie sich mit Reynaldo Hahn und dessen Cousine Marie Nordlinger trafen, mit der Proust seine Begeisterung für Ruskin teilte und die ihm später bei seinen Ruskin-Übersetzungen assistierte. Hahn komponierte 1902 ein Stück Les Muses pleurant la mort de Ruskin (BnF VM7-17879) und widmete es Proust. Diese Venedigreise hat sicherlich in der Venedigreise Marcels in der Entflohenen ihre kunsthistorischen Spuren hinterlassen (im Herbst desselben Jahres unternahm Proust eine weitere Reise nach Venedig, diesmal allein). 1895 lernte Proust durch Reynaldo Hahn Sarah Bernhardt kennen, mit der dieser befreundet war und deren Biographie er 1930 verfasste (La Grande Sarah). Ebenfalls durch Reynaldo Hahn wurde Proust 1910 mit Jean Cocteau bekannt gemacht, der zusammen mit Federico (»Coco«) de Madrazo y Ochoa das Libretto zu Hahns Ballett Le Diable bleu verfasste, aber auch an den Szenarien für die Ballets Russes beteiligt war, was es Proust ermöglichte, auch Diaghilev und Nijinsky zu treffen. Durch Hahns Schwester Marie de Madrazo ließ Proust Erkundigungen zu Stoffmotiven bei ihrem Neffen einholen, dem Damenschneider und Stoffdesigner Mariano Fortuny (1871–1949). Zur Verwandtschaft Hahns mit der weitverzweigten, auch im Prado gut vertretenen spanischen Maler-Dynastie de Madrazo, die Proust zum Teil kennenlernte – insbes. auch Coco (= Frédéric = Federico) de Madrazo y Ochoa, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband – s. den Stammbaum in Kap. VIII.7
Die folgenreichste Bekanntschaft, die Proust durch Hahn 1894 vermittelt wurde, war aber zweifellos die mit Alphonse Daudet, dessen Werke Proust schon von Jugend an bewundert hatte; Bergotte dürfte einige seiner literarischen Charakteristika von Daudet geerbt haben. 1919 war Daudets Sohn Léon maßgeblich daran beteiligt, dass Proust den Prix Goncourt (s. unten) erhielt. Mit beiden Söhnen, Léon und Lucien, verband Proust eine lebenslange Freundschaft, trotz des aktiven Antisemitismus des Journalisten Léon. Die Freundschaft mit ihm führte 1900 zu der Bekanntschaft mit Gaston Calmette, dem Herausgeber des Figaro, der Proust nachdrücklich förderte und dem der erste Band der Recherche gewidmet ist. Die Freundschaft mit dem sieben Jahre jüngeren Maler und Schriftsteller Lucien nahm recht bald deutlich amouröse Züge an, was den Kritiker Jean Lorrain vom Journal dazu veranlasste, von einer »besonderen Freundschaft« zu sprechen; Proust forderte ihn daraufhin zum Duell mit Pistolen: »Niemand wurde verletzt, und die Sekundanten erklärten den Streit für beigelegt« (Le Figaro, 2. 2. 1897). Nach dem Erscheinen von Swann schrieb Lucien eine hingerissene Rezension für den Figaro.
Im Salon von Madame Straus hatte Proust neben Madame Lemaire 1891 auch Jacques-Émile Blanche (1861–1942) kennengelernt, einen erfolgreichen Gesellschaftsmaler, der 1892 das allgemein bekannte Porträt von Proust anfertigte. Die Familie Blanche lebte in Auteuil, was Proust Gelegenheit zu häufigen Besuchen gab; Émiles Vater, der berühmte Neurologe Antoine, betrieb in Auteuil eine Nervenheilanstalt, in der er neben anderen Künstlern und Schriftstellern auch Maupassant in dessen letzten Lebenstagen behandelte. Die Freundschaft zwischen Proust und Jacques-Émile Blanche hatte eher sporadischen Charakter; so ruhte von 1893 bis 1914, immerhin 21 Jahre lang, jeglicher Kontakt zwischen den beiden. 1918 verfasste Proust ein Vorwort zu Émiles De David à Degas, das zu heftigen Meinungsverschiedenheiten führte, auf die Émile dann in der Widmung des Folgebandes Dates einging. In seinem Buch Mes Modèles (1928) erinnert sich Émile ausführlich an Proust und seine Beziehung zu ihm.
Dem gleichen Salon verdankte Proust die Bekanntschaft mit der Urenkelin Laure-Marie (1859–1936) des Marquis de Sade, die 1879 den Comte Adhéaume de Chevigné heiratete und der der junge Proust im Frühjahr 1892 bei ihren Spaziergängen aufzulauern pflegte. Als sie sich bei der Lektüre von Guermantes in dieser Szene und in dem Vogelprofil (»das zähe Huhn, das ich einst für einen Paradiesvogel hielt«, Corr. XX, S. 349) der Herzogin von Guermantes wiedererkannte, brach sie die Beziehung zu Proust ab: »Als ich zwanzig war, wollte sie mich nicht lieben; muss sie sich jetzt, wo ich vierzig bin und aus ihr das Beste der Herzogin von Guermantes gemacht habe, weigern, mich zu lesen?«8
Einen weiteren Ausgangspunkt für interessante Bekanntschaften bildete die aus Rumänien stammende Chopin-Interpretin Princesse Rachel Bassaraba de Brancovan (1847–1923), die Proust während seines Urlaubs in Évian 1893 kennenlernte. Ihre eine Tochter, Hélène (1878–1929), der Proust eine tiefe Zuneigung entgegenbrachte und der er 1906 das Vorwort zu Sésame et les Lys widmete, heiratete 1898 den Prince Alexandre de Caraman-Chimay, die andere, Anna (1876–1933), den Comte de Noailles. Anna wiederum machte Proust mit ihren Cousins bekannt, den Princes Antoine und Emmanuel Bibesco, zu denen sich eine enge Freundschaft entwickelte, die gelegentlich auch als »intim« beschrieben wird. Vierter im Bunde war Prousts stets angehimmelter Schulfreund Bertrand de Fénelon, den die Bibesco-Brüder aber schon vorher kannten. Die Mutter der beiden Brüder, die ebenfalls aus Rumänien stammende Hélène Bibesco (1855–1902), unterhielt einen Salon, in dem die künstlerische Elite verkehrte,