Surazo. Karin Harrasser
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Ein zweiter Schauplatz ist Kufstein in Tirol, auch er: Peripherie. Ich bin in der österreichischen Kleinstadt aufgewachsen, die malerisch zwischen dem hoch aufragenden Wilden Kaiser und dem einzeln dastehenden Pendling an der bayrisch-tirolerischen Grenze liegt. Es war eine Kindheit eingebettet in Natur: Wir gingen wandern, klettern, Ski fahren, spielten im Wald und badeten in den Seen, die rund um Kufstein liegen. Einer davon ist der Stimmersee, ein kleiner, künstlicher Stausee etwas außerhalb, an dem sich ein Gasthaus, ein kleines Hotel und eine Badeanlage befinden. Unmittelbar neben dieser charmanten Ferienanlage, die auch von uns »Einheimischen« genutzt wurde, lebte bis 1982 Hans-Ulrich Rudel. Der im Zweiten Weltkrieg höchstdekorierte Sturzflieger war eine Schlüsselfigur im internationalen Netzwerk alter und neuer Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht nur als Fluchthelfer von beispielsweise Josef Mengele war er viel auf Reisen, sondern er war auch deshalb so viel unterwegs, weil er als Vertreter österreichischer und deutscher Firmen reiste. Seit seiner Zeit in Juan Peróns Argentinien in den 1950er-Jahren, als er dort die Luftwaffe beriet, vertrat er Firmen wie Siemens oder Steyr-Daimler-Puch und sorgte so dafür, dass zuverlässig Waffen an die Diktatoren Augusto Pinochet (Chile), Alfredo Stroessner (Paraguay) oder Hugo Banzer (Bolivien) geliefert wurden. Die österreichischen Grünen lancierten in den frühen 1980er-Jahren eine parlamentarische Anfrage, wie es denn sein könne, dass Steyr Kürassier-Panzer beim Kokain-Putsch von Luis García Meza in Bolivien zum Einsatz gekommen waren. Die Antwort: Weil Rudel sie vermittelte.
Und dann ist da noch Ute Messner (geb. Barbie), die Tochter von Klaus Barbie-Altmann, die in der Nachbarschaft der zweiten Frau meines Vaters in Kufstein-Eichelwang lebte und die über Hans-Ulrich Rudel nach Kufstein gekommen war. Warum, of all places, Kufstein? Vielleicht ist es ein Zufall, dass sich gerade hier, im Wald hinter dem Stimmersee, die transatlantischen Linien erneut treffen. Vielleicht hat es auch mit Kufsteins Lage als Grenzort und Verkehrsknotenpunkt zu tun, die es zu einem strategischen Punkt für die Nazifluchthelfer machte; oder damit, dass Zoll, Grenzpolizei und eine Kaserne ein gutes Milieu für nationale und konservative Parteien bildeten. Sicher ist, dass Kufstein nicht nur während der NS-Zeit deutlich weiter rechts orientiert war als die meisten umliegenden Ortschaften, sondern auch in den Nachkriegsjahren.
Es mag sein, dass durch die Konzentration auf nur wenige Personen und Orte die Geschichte, die ich erzählen werde, durch ihre Unwucht den vertrauten Rahmen der Historie verunsichert. Aber so ist Geschichte, insbesondere wenn sie koloniale Verhältnisse und den Nationalsozialismus miteinschließt. Sie rundet sich nicht, sie soll sich nicht runden. Recherchen öffnen manchmal seltsame Wege. Eigentlich wollte ich die kulturelle Kolonisierung durch die jesuitische Mission in Bolivien erforschen. Die andere Spur kam unverhofft.
EINE GESCHICHTE ÜBER DEN WIND
Une histoire de vent (Eine Geschichte über den Wind), der letzte Film von Joris Ivens, wurde 1988 veröffentlicht. Im Jahr darauf starb der Filmemacher, der noch im 19. Jahrhundert geboren worden war und der in den 1920er-Jahren zwei ganze Jahre damit verbracht hatte, einen zwölfminütigen Film über den Regen zu machen. Joris Ivens war Teil des sozialistischen Projekts des 20. Jahrhunderts: Von Borinage (1934), dem Film über die schwierigen Lebensverhältnisse und Proteste in einer belgischen Bergarbeitersiedlung, über die Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg bis hin zum gemeinsamen Filmprojekt mit Chris Marker, Agnès Varda und anderen Avantgardisten (Loin du Vietnam, Fern von Vietnam, 1967) sind Ivens’ politische Überzeugungen eingebettet in seine Filmarbeit.
Eine Geschichte über den Wind widmet sich einer Suche, die fast ein Jahrhundert lang dauert. Der Film erzählt über den Wunsch nach Bildern für das Ungreifbare, das Veränderliche, das Prinzip der Geschichte, die Möglichkeit des sozialistischen Wandels: Bilder für den Wind. Schon die Eingangsbilder präsentieren das side-by-side-Prinzip, das Siegfried Kracauer als spezifische Erkenntnishaltung von Film und Geschichtsschreibung herausgearbeitet hat: ein Seite-an-Seite von Persönlichem und Kollektivem, Subjektivem und Objektivem, Bewusstem und Unbewusstem, Rationalem und Irrationalem, Fakt und Fiktion, dem Kleinen und dem Großen. Wir sehen, nein wir hören zuerst flappende Windradflügel. Die Flügel schneiden in das Bild, sie machen Lärm, den Lärm historischer Großereignisse. Dann: Eine Wäscheleine, auf der Frischgewaschenes flattert, Alltag, unauffälliges Wehen. Dann: Ein Junge in einem selbstgebauten Spielzeugflugzeug. Es wird noch abheben, obwohl das Flugzeug nicht fliegen kann. Im restlichen Film durchstreift Joris Ivens, der ein sehr alter Mann geworden ist, zumeist im Rollstuhl oder getragen, die politischen Landschaften des 20. Jahrhunderts. Der Film wird zu einer Revue. Die Form wird akzentuiert durch den Nachbau des Schwarz-Weiß-Szenarios von Méliès’ Animationsfilm Le voyage dans la lune (Die Reise zum Mond, 1902), allerdings im Stil der chinesischen Oper. Am Schluss steht ein leerer Sessel in der Wüste. Ivens ist weggegangen, der Wind weht weiter.
Eine Geschichte über den Wind ist die Geschichte des grenzüberschreitenden Charakters der Idee des Sozialismus, der fantastischen Idee einer Welt mit mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, einer Idee, die freilich in ihrem Bestreben nach einer Welt ohne Zurichtung ihrerseits gewalttätig wurde. Der Toten eingedenk dieser grenzüberschreitenden und gestaltwandlerischen Idee die Treue zu halten, ist der Einsatz von Joris Ivens. Ein Jahr nach seinem Tod, 1990, wurde ein Lied über den Wind zur Hymne des Falls der Berliner Mauer. Wind of Change der Scorpions war auf allen Radiokanälen zu hören. Es war eine Wende zu neuen Freiheiten für die Menschen, die im Ostblock lebten. Dieser Wind des Wandels bescherte aber auch den zwischenzeitlichen Triumph jener ökonomischen und politischen Ordnung, gegen die Menschen wie Monika Ertl gekämpft haben. Surazo, ein kalter Winter aus dem Süden, sollte der Name von Hans Ertls letztem, dem verlorenen Film sein. Und Südwind heißt das entwicklungspolitische Magazin, das meine Eltern als ehemalige »Entwicklungshelfer« bezogen haben, um mit den österreichischen Ehemaligen in Kontakt zu bleiben. Ich muss eine weitere Geschichte über den Wind schreiben.
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