Staubfänger. Lucie Faulerová
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Und damals ist er vielleicht zu mir gekommen, damals ist er vielleicht erschienen – mein Erzähler, damals, als ich diese Sitzungen eingeführt habe, damals, als Jakub verschwand und Mercedes verschwand und Ondřej verschwand. Er fand mich, weil er sich dachte, wenn er mein Leben erzählen würde, dann wäre dieses Leben nicht ganz so Scheiße. Dann würde darin etwas passieren. Dann würde ich mir einreden können, dass es etwas wert ist. Oder war es vielleicht anders, vielleicht ist er erschienen, weil ich ihn herbeigerufen habe. Vielleicht war ich es, die sich dachte, dass mein Leben mehr wert ist, wenn es jemand erzählen würde. Dass es ins Gewicht fallen würde. Dass es Sinn haben würde. Oder war es ganz anders. Ich weiß es nicht mehr. Staub hat sich darauf angesammelt. Und dann erhob sich Anna, sie erhob sich aus dem Staub und sie beschloss, die vom Lichtkegel ausgeleuchtete Stelle zu verlassen, sie beschloss, das Strahlen der Scheinwerfer auf die Bretter, die ihre Mikrowelt bedeuten, unter tosendem Applaus der Zuschauer zu verlassen, und schloss die Tür hinter sich.
Normalerweise gehe ich nicht auf Firmenpartys, aber heute bin ich dabei, ich stehe an der Bar und drehe ein Glas mit irgendeinem Whiskey in der Hand, ich verstehe überhaupt nichts von diesem Getränk, es schmeckt mir überhaupt nicht, aber es sieht gut aus, und ich beobachte, wie sich die Köpfchen um mich herum öffnen und schließen, wie durchsichtige und undurchsichtige Flüssigkeiten hineingeschüttet werden, Schnapsgläser klimpern, Hände werden gedrückt, Küsschen auf Gesichter geklatscht, ich bin die aus dem Gehege neben der Tür, freut mich, dich kennenzulernen. Und wenn ich einen Moment alleine bin, kommt jemand, der mich kennenlernen will, der sich mit mir anfreunden will, der mich anlächelt und mir die Hand gibt. Und so spreche ich mit Leuten, die sich in diesem Moment nach nichts anderem sehnen, als mich kennenzulernen, mir noch einen Whiskey zu bestellen, weil sie ihn nicht bezahlen müssen, und ich fühle mich gut, denn ich habe ihnen gerade gesagt, dass ich verlobt bin, denn ich habe ihnen gerade gesagt, dass meine Eltern gestorben sind, als ich noch klein war. Ich habe ihnen gesagt, dass sie verbrannt sind. Sie fragen mich nach Geschwistern, und ich sage, dass ich ein Einzelkind bin.
Dann sitze ich an der Bar, sie spielen tschechische Hits aus den Neunzigern, zu denen alle rundherum abrocken, und mir ist ein bisschen schlecht. Wollt ihr Zeugen von angesammelter Einsamkeit und Verzweiflung sein? Zeugen davon, wie tief Menschen fallen können, wie tief unter ein noch tragbares Maß an Urteilsvermögen? Wie sie auch ihre allerniedrigsten Ansprüche bezüglich der Frage, mit wem sie zumindest eine Nacht verbringen, vergessen können? Erstens: geht in eine Bar. Zweitens: wartet bis Mitternacht, bis die meisten schon reichlich getankt haben. Drittens: schaut euch um. Ihr seht krampfhaftes Lachen, peinliches Haschen nach Aufmerksamkeit, als Losgelöstheit und Verspieltheit maskierte Hysterie. Eine Schau erbärmlicher Gestalten, klimp-kling-trink, haha, hehe, schaut mich an, ich kann ruhig auch mein Shirt hochziehen, streichelt mich doch irgendjemand, bitte, schaut mich an, hier bin ich.
Ein Typ setzt sich zu mir, bestimmt ist er jünger als ich. Er ist groß, hat die Frisur eines Nazi-Schnösels, wenn ich mir seinen Daumen so ansehe, könnte er auch ziemlich gut bestückt sein. Wir reden miteinander. Ich weiß nicht mehr, worüber, ich weiß nur, dass ich total viel gelogen habe, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte. Er erzählte mir, dass er schon anderthalb Jahre Single ist. Er bestellte mir einen Schnaps. Ich weiß nicht einmal, ob es Whiskey war oder was anderes. Wir redeten über Sex. Ich spreche nicht gern über Sex. Er bestellte mir noch einen. Sie spielten wieder einen Klassiker aus den Neunzigern, Mňága & Žďorp. Mir war schlecht.
Dann gehen wir auf die Terrasse und er zündet einen Joint an. Ich denke an Mercedes, mit ihr habe ich das letzte Mal Gras geraucht, das ist schon ein paar Jahre her. Von ihr habe ich auch diese kindische Weisheit gelernt, das mit dem Daumen als Maßstab für das beste Stück eines Mannes – der Daumen im Verhältnis zum Rest der Hand, seine Form, seine Breite und Länge entsprechen der Größe, Länge und Breite des Penis des Betreffenden. Ich spüle Mercedes und ihr heiseres Lachen runter, aber es klappt nicht, deshalb nehme ich einen stärkeren Zug und mir wird noch ein bisschen schlechter und der Kopf von dem Typen klappert und ich weiß nicht, was er sagt. Ich beobachte ihn und stelle mir vor, wie er wohl beim Sex ausschaut, wie er sich bewegt, wie er schnauft, ich stelle mir vor, wie ich ihn in meinem Mund habe, frage ihn, ob wir nicht zu mir gehen wollen. Im Taxi sitzen wir beiden hinten, er saugt sich mit seiner Zunge an mir fest und ich glaube, er hat seine Hand in meiner Unterhose, als er nach meinem Verlobten fragt, und ich sage, dass er nicht zu Hause ist, ich sage, er soll nicht über ihn sprechen, ich sage, es geht nur um eine Nacht, und vor den Autofenstern huschen die Farben der Stadt vorbei, wie ein horizontales Feuerwerk, würde mein Erzähler sagen. Und ich sage ihm, er soll eine Weile still sein, dass mir ein bisschen schlecht ist. Und Anna sagt zu dem Jungen mit der Frisur eines Nazi-Schnösels, er soll eine Weile still sein, dass ihr ein bisschen schlecht ist, und bemerkt nicht, dass der, mit dem sie tatsächlich spricht, sie selbst ist, während sie versucht, die Zweifel zu verscheuchen, die ihren Kopf füllen, Zweifel daran, dass sie anders ist als die erbärmlichen Gestalten aus der Bar, die sie vor Kurzem verachtete. Schweig!
»Ich sag nichts, Kätzchen«, seufzt mir der Typ auf die Haut, als es uns, im Bemühen um einen leidenschaftlichen Aussetzer, gegen die Wand schleudert, die Wand in meinem Vorzimmer, aber ich verliere das Gleichgewicht und falle hin. Mein Kopf stößt mit solcher Wucht gegen den Schuhschrank, dass ich fürchte, eine Gehirnerschütterung davonzutragen. Ich glaube, wir lachen darüber, aber ich habe das Gefühl, mein Kopf sieht aus wie eine offene Schachtel, und mir ist deshalb irgendwie komisch und ich denke nur daran, zu schlafen, zu schlafen, mich hinzulegen und zu schlafen, und in meinem Kopf erklingt dieses Lied von Mňága & Žďorp. Ich stehe auf, er hilft mir, streicht mir die Haare hinters Ohr und beginnt, mich zu küssen, ich spüre die Spuren, die sein Speichel auf meinem Kinn hinterlässt, rieche den Alkohol aus seinem Mund und seinen Poren im Gesicht, er schiebt mir den Rock hoch und die Unterhose mit einem Finger zur Seite. Alles geht furchtbar schnell und ich fühle mich irgendwie unbeteiligt, als würde das alles gar nicht mir passieren, kurz ist es da, dann ist es wieder weg, ich bin auf einem Karussell, doch dann dringt er unerwartet und grob in mich ein, und dadurch komme ich wieder zu mir, oder vielleicht auch nicht, vielleicht dauert es lange, und mir schießen Tränen in die Augen, und so denke ich mir, dass es doch grob ist und dass es wehgetan hat und mir wohl deshalb Tränen in die Augen geschossen sind. Und wir schauen uns an und seine Augen verwandeln sich plötzlich und werden ganz andere Augen, werden zu denen, die sagen: »Im Ernst, Anna. Im Ernst?« Und so ist es immer. Und ich schließe meine Augen, aber davon wird mir noch schlechter, also öffne ich sie wieder, ich schaue zur Seite, er greift mein Kinn, drückt seine Finger gegen mein Gesicht und dreht meinen Kopf zu sich, aber das halte ich nicht aus, denn ich drehe ihm jetzt den Rücken zu. Ich strecke meinen Hintern raus und lehne mich gegen die Wand, warte einen Augenblick und spüre ihn in mir. Doch ich sehe diese Augen, die ich immer sehe. »Im Ernst, Anna?«, diese Augen, die mir in den Kopf tätowiert wurden, und so sage ich ihm, er soll schneller werden, ich sage ihm, er soll