Seitensprungkind. Regula Brühwiler-Giacometti
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Mitte November 1958, als ich etwa sechs Wochen alt war, teilte meine leibliche Mutter der Adoptionsvermittlungsstelle telefonisch mit, dass sie froh wäre, wenn das Kind durch die Mitarbeiter abgeholt werde und bat darum, das dem Kinderheim entsprechend zu berichten. Eigentlich hatte meine Mutter zuerst gesagt, dass es ihr wichtig gewesen wäre, mich persönlich abzuholen. Was war wohl der Grund dieses Wandels? Brachte sie es nicht übers Herz, mich nochmals zu sehen und dann wegzugeben? Das wissen nur die Sterne. So holte mich die Fürsorgerin in St. Gallen ab und protokollierte:
„Helga scheint ein dunkelhaariges, nicht unsympathisches Kindlein zu sein. Seine Äugelein zeigt es allerdings auf dem ganzen Weg nicht und schläft immer. Es hat eher ein rundes Gesichtlein, und ein tiefes Grübchen im Kinn. Sie soll ein sehr liebes Kind sein, nur wenn ihr etwas nicht passt, schreie sie los, wie kein zweites.“
Aus den Akten erfahre ich ein letztes Mal etwas über meine leibliche Mutter:
„Sie erkundigt sich, wie es der Kleinen geht und ob sie eventuell ein Bildchen erhalten könne, sie habe selber noch fotografieren wollen, sei aber nicht dazu gekommen.“
Ich kann nur schwer hoffen, dass ihr dieser Wunsch erfüllt wurde.
Am 1. Dezember 1958, ich war knapp zwei Monate alt, traf ich in Lugano ein und wurde nun vorerst die Pflegetochter meiner Mami und meines Papi. Am 11. Dezember unterschrieben die beiden die Erklärung, in der sie sich verpflichteten, „in gesunden und kranken Tagen“ für mich finanziell aufzukommen, mich eine Schul- und Berufsausbildung genießen zu lassen und mich wie ihr eigenes Kind zu behandeln. All dies haben mein Mami und Papi in ihrer wunderbaren Art erfüllt.
Die rechtlichen Bestimmungen, die zu jener Zeit maßgebend waren
Als ich dann im Jahre 1960 definitiv adoptiert wurde, waren noch die alten Bestimmungen des Zivilgesetzbuches (ZGB) vom 1. Januar 1912 in Kraft. Hier ein Auszug aus der „Aktennotiz“ des EJPD vom 13.02.2014:
„Das alte Recht erkannte unter dem Titel ‚Kindesannahme‘ einer solchen Annahme nur beschränkte Wirkungen zu. Die Kindesannahme betraf vor allem den Familiennamen, die Unterhaltspflicht, die elterliche Gewalt und das Erbrecht, das jedoch stark eingeschränkt werden konnte. Hingegen konnte das Schweizerische Bürgerrecht (somit auch das Heimatrecht) durch die Annahme nicht erworben werden und das angestammte Kindesverhältnis zu den leiblichen Eltern dauerte fort: Das Kind gehörte mit der Kindesannahme somit zwei Familien an, was sich auch darin äusserte, dass die leiblichen Eltern ein Besuchsrecht beanspruchen konnten, das ursprünglich auch durch Vertrag nicht wegbedungen und nur durch die zuständige Behörde selbst entzogen werden konnte. Zudem bestand weiterhin eine gegenseitige Unterstützungspflicht zwischen leiblichen Eltern und dem angenommenen Kind. Dieses behielt überdies sein Erbrecht gegenüber seinen leiblichen Eltern; das Kindesverhältnis wurde nicht aufgelöst. Dies führte unter anderem dazu, dass bei einem allfälligen Tod der oder des Annehmenden die leiblichen Eltern wieder sämtliche Rechte, die mit der Kindesannahme an die Adoptiveltern übertragen wurden, zurückerhielten und das Kind auch wieder seinen ursprünglichen Namen annehmen musste.
Fazit: Die Ausgestaltung der Kindesannahme mit den Wirkungen einer einfachen oder schwachen Adoption entsprach den Anschauungen der Entstehungszeit des ZGB. Damals ging man im Übrigen nicht davon aus, dass von diesem Institut häufig Gebrauch gemacht werden würde. Das alte Recht der Kindesannahme kannte kein Adoptionsgeheimnis; angesichts der beschränkten Wirkungen der Annahme und der Tatsache, dass das adoptierte Kind weiterhin seiner angestammten Familie angehörte, ja dass die leiblichen Eltern sogar ein Besuchsrecht hatten, hätte ein solches Geheimnis auch wenig Sinn gemacht.“
Am 1. April 1973 trat das neue Adoptionsrecht in Kraft, welches sich wesentlich vom alten Recht unterscheidet. Das ZGB sieht nun die Volladoption vor:
Der Adoptierte begründet zu den Adoptiveltern ein Kindesverhältnis mit der Verwandtschaftswirkung, als ob er ein leibliches Kind der Adoptiveltern wäre. Die bisherigen Kindesverhältnisse erlöschen. Das adoptierte Kind erhält den Nachnamen der Adoptiveltern. Zudem dürfen ihm diese einen neuen Vornamen geben, sofern dies mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Der Adoptierte erhält das Kantons- und Gemeindebürgerrecht desjenigen Adoptivelternteils, dessen Namen es trägt. Die Adoption ist unauflöslich und die Wirkungen endgültig.
Erste Lebensjahre
Es war an einem verschneiten Tag Anfang Dezember, ich war acht Wochen alt, als meine Mami mich bei der Adoptionsvermittlungsstelle in Rapperswil abholte. Von Lugano kommend, hatte sie eine lange Reise mit dem Zug hinter sich. Es war offenbar eine rasche und fast formlose Übergabe. Wie genau diese vor sich ging, habe ich nie erfahren, darüber stand auch nichts in den Akten. So schnell ging das, ein Kind zu platzieren! Was wohl in mir vorging? Habe ich mich gefragt, wer mich jetzt in einer Tragetasche mit sich trägt? Was passiert mit mir? Wie habe ich dieses ständige lärmige Geräusch auf der Zugfahrt empfunden? Habe ich während der ganzen Zugfahrt geschrien? Irgendwann bin ich sicher vor Erschöpfung eingeschlafen.
Ich wusste nicht, ob ich jetzt wieder an einen neuen Platz kam, der für längere Zeit mein neues Zuhause sein würde. Wie konnte ich das als Baby auch erkennen? So brachte mich meine Mami in ihre Wohnung, und schon bald wurde ich auch von meinem Papi in Empfang genommen. Seine erste Reaktion war nicht gerade die tollste, die man sich wünscht: „Bring das hässliche Kind zurück, ich will das nicht!“, waren seine ersten Worte, als er mich zum ersten Mal sah, hat mir meine Mami immer wieder erzählt. Und sie gab auch zu, dass es in erster Linie ihr Wunsch war, ein Kind aufzunehmen. Mein Papi war eher skeptisch. Sie hatte sich – wie immer – durchgesetzt, und mein Papi hatte aus Liebe zur ihr sein Einverständnis gegeben. Aber ich habe meinem Adoptivvater längst verziehen, weil er mit seiner großen Liebe zu mir alles wieder gutgemacht hat. Meine Mami fügte immer wieder dazu: „Weißt du, nach einer Woche hätte er dich um keinen Preis mehr zurückgegeben!“
Als mich meine Adoptiveltern zum ersten Mal in den Armen hielten, sah ich wirklich hässlich aus. Mein ganzes Gesicht war mit Krusten übersäht. Ich litt an einer starken Neurodermitis. Aus heutiger Sicht betrachtet waren das sicher Zeichen einer Stressreaktion des Körpers, hervorgerufen durch die seelischen Strapazen.
So war ich nun in Lugano angekommen. Das rassige, dunkle Maiteli war nun in einer lateinischen Umgebung zuhause und konnte sich endlich entfalten. Es war sicher auch für meine Adoptiveltern eine riesige Umstellung, plötzlich ein Baby bei sich zu haben, für das man rund um die Uhr Verantwortung übernehmen muss. Es fehlte die neunmonatige Schwangerschaft, in der meine Adoptiveltern sich schon voll auf das Kind im Bauch vorbereiten und zu ihm eine natürliche Beziehung aufbauen konnten. Seit ihrer Anmeldung bei der Adoptionsvermittlungsstelle waren zwar auch bei ihnen schon genau 9 Monate vergangen, aber meine Eltern hatten keine Möglichkeit, mich zu fühlen oder eine Bindung zu mir aufzubauen. Ich wuchs nicht in meiner Mami heran, sie hat nicht spüren können, wie ich ihren Bauch immer mehr wölbte und in ihr strampelte. Nie konnten sie sich die Frage stellen: Wird es wohl dem Vater oder der Mutter ähnlich sein?
Diese letzte Frage trifft bei mir nicht zu, hatte ich doch unbekannte Erbanlagen. Ich war jedoch eher der südländische Typ und hatte somit eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit meinem Papi.
Am 11. Dezember 1958 schrieb meine Mami der privaten Kindervorsorge in Rapperswil:
„Liebes Fräulein, Unsere Regula (sie heisst jetzt so) hat sich bei uns schon gut eingelebt und wir haben viel Freude an ihr. Sie wird jeden Tag hübscher und lebhafter