Seitensprungkind. Regula Brühwiler-Giacometti
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Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass leider auch der Hausarzt keine Ahnung hatte, was eine erneute Trennung für ein so kleines Adoptivkind bedeutet und welche Auswirkungen diese haben kann. Wenn ich das schreibe, macht es mich sehr traurig. Ich hätte meinen Sohn in diesem Alter niemals für so lange Zeit in fremde Betreuung geben können! Und so kam es, wie es kommen musste: Als mich meine Adoptiveltern vier Wochen später wieder abholten, erkannte ich sie nicht wieder. Aus Erzählungen meiner Mami weiß ich, dass ich nicht mit ihnen weggehen wollte und wie am Spieß schrie.
Heutzutage ist es so, dass sogar bei kurzen Spitalaufenthalten die Eltern aufgefordert werden, einen großen Teil des Tages, und falls nötig auch die Nacht, beim Kind zu verbringen, um das Getrenntsein auf ein Minimum zu reduzieren, denn heute weiß man, dass eine lange Trennung zu einem seelischen Langzeittrauma führen kann und noch schwerwiegendere Störungen als meine sowieso schon vorhandenen Krankheiten hervorrufen kann.
„Auch bei leiblichen Kindern, die von der Mutter getrennt werden und bis dahin seelisch und körperlich gesund waren, können diese Kinder, je jünger sie sind, desto stärker, plötzlich körperlich und seelisch erkranken und sogar lebensgefährliche Erkrankungen entwickeln, woran sie schlimmstenfalls auch sterben können. Ihre Lebenskräfte sind durch den Weggang der Mutter geschwunden, die ihnen bisher, beginnend in der Schwangerschaft, als Kraftquelle diente.“ (Hellbrügge, 2003)
Meine Mami war eine sehr lebhafte und kontaktfreudige Person. Sie war bestrebt, dass ich immer mit vielen Kindern spielen konnte. In der warmen Jahreszeit ging sie täglich mit mir in einen kleinen Park am See (auf dem Coverbild sieht man mich in diesem Park), wo ich im Sandkasten mit gleichaltrigen Kindern spielen konnte. In den Wintermonaten sorgte sie dafür, dass öfter Kinder zu uns zu Besuch kamen. Ich hatte viele liebe Menschen um mich, viele Aktivitätsmöglichkeiten, und ich konnte mich dadurch gut entfalten.
Aber krank war ich nach wie vor sehr oft. Angina hatte ich zwar keine mehr, da mir im Alter von 2 Jahren die Mandeln operiert wurden. Dafür erlitt ich einen heftigen Keuchhusten, wie es im Medizinbuch steht. Die Hustenattacken dauerten über Monate – und wieder kämpfen meine Adoptiveltern mit vielen schlaflosen Nächten. Im Brief meiner Mamis vom Dezember 1960 an die Adoptionsvermittlungsstelle liest man Folgendes:
„Liebes Fräulein, Anbei sende ich Ihnen einen Gepäckempfangsschein, mit welchem Sie auf dem Bahnhof Rapperswil einen Kinderwagen abholen können. Im Fall der Wagen beschädigt sein sollte, ist er versichert und Sie können dementsprechend reklamieren. Ich hoffe, einem kleinen Pflegling einen Dienst zu erweisen; bestimmt können Sie immer alle gut gebrauchen. Wir freuen uns sehr, mit unserem Regeli Weihnachten zu feiern und sie wartet mit grosser Ungeduld aufs Christkind, von welchem sie viele Geschenkli erwartet. Regula hat seit anfangs November den Keuchhusten, leider ziemlich stark, und ich habe wieder viele schlaflose Nächte hinter mir. Nun geht’s allerdings bedeutend besser und am 2. Januar 1961 werden wir für 4 Wochen nach Mürren gehen, dann wird bestimmt dieser langwierige Husten ganz verschwinden. Es ist wirklich schade, dass Sie Regula nicht sehen können! Ihr Mündchen plappert den ganzen Tag. Sie hat nun zwei herzige Zöpfli und so sieht sie schon wie ein grosses Meiteli aus. Wir haben unglaublich viel Freude mit ihr. Ich wünsche Ihnen und dem ganzen Unternehmen alles Gute für 1961 und allen frohe Weihnachten. Liebe Grüsse H. Giacometti + Familie“.
Meine Mami erzählte mir, dass jede zweite Woche der Hausarzt bei uns zu Hause war. So kam es dann auch, dass ich, als ich ca. 2 ½ Jahre alt war, wegen starken undefinierbaren Bauchschmerzen am Blinddarm operiert werden musste. Davon trage ich jetzt noch eine 10 cm lange Narbe. Es stellte sich danach heraus, dass der Blinddarm eigentlich gar nicht entzündet war, sondern es sich um eine Bauchfellentzündung gehandelt hätte. Diese Operation war demnach vergebens.
Ich war nun zweijährig und ständig krank. Im Nachhinein denke ich, hatten diese Krankheiten eher psychosomatische Ursachen, hervorgerufen durch die häufigen Trennungen, wurden aber nicht als solche erkannt. Meine Adoptiveltern schrieben der Adoptionsvermittlungsstelle immer wieder, sie hätten riesige Freude an mir und könnten sich ein Leben ohne mich nicht mehr vorstellen. Aber ich glaube auch, dass es eine sehr schwierige Zeit für sie war. Ich schrie viel, raubte ihnen den Schlaf und forderte durch meine Krankheiten ihre ständige und volle Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich wollte ich sichergehen, dass sie sich immer um meine Bedürfnisse kümmerten. Meine Mami gab später aber zu, dass sie mich nicht immer aufgenommen hat, wenn ich im Bettlein schrie. Sie war der Meinung, dass man Babys nicht zu fest verwöhnen soll, sonst beherrschten sie einen. Und so ließ sie mich am Tag – in der Nacht konnte sie es wegen der Nachbarschaft nicht – für längere Zeit schreien.
Da meine Mami im Büro meines Papis mithalf, organisierten meine Eltern eine Haushaltshilfe. Diese kam mehrmals in der Woche, um den Haushalt in Ordnung zu halten und dazu noch mich zu betreuen. Jahre später traf ich diese liebenswürdige Frau wieder und sie erzählte mir spontan: „Weißt du, deine Mutter war extrem streng mit dir. Sie hatte mir verboten, dich aufzunehmen, wenn du geschrien hattest. Aber ich konnte es nicht ertragen, du hattest so laut geschrien, dass mir fast das Herz zerbrochen ist. So habe ich dich dann in die Arme genommen und nach kurzer Zeit musstest du ein ‚Görbschen‘ machen und danach warst du dann wieder ruhig.“
Ich bin ihr so dankbar, dass sie mich so liebevoll betreut hat. Trotz ihres höllischen Respekts vor meiner Mami hat sie den ganzen Mut zusammengenommen und ihr gebeichtet, dass sie mich regelmäßig vom Bettchen aufgehoben und dabei gemerkt habe, dass der Grund meines Schreiens Verdauungsprobleme waren. Sobald sie mich kurz in den Armen hielt, konnte ich auch wieder ruhig im Bettchen einschlafen.
Ja, das war meine Mami. Eine strenge Erzieherin, die es gut meinte, aber eindeutig zu wenig Empathie für ein Kleinkind hatte – und erst recht keine Vorstellung davon, wie viel zusätzliche Aufmerksamkeit ein traumatisiertes Adoptivkind gebraucht hätte, damit es nicht immer wieder an die erste schmerzliche Trennung erinnert würde.
Schon in meiner Kindheit entwickelte ich viele Ängste, die mich leider das Leben lang begleiteten. Meine Mami wollte, dass ich mich früh daran gewöhne, allein zu Hause zu sein. Sie meinte, es würde mich stärken, wenn ich abends immer wieder auf mich allein gestellt wäre. Heute weiß ich: Es hat genau das Gegenteil bewirkt und Verlustängste provoziert.
Das gehörte auch zu ihren Erzählungen: „Weißt du, ich wollte mit deinem Papi einmal pro Woche ins nahe gelegene Bistro gehen, um ein wenig fern zu sehen sowie um andere Menschen zu treffen. Und als wir dich ins Bett legten, verabschiedeten wir uns von dir und erklärten dir, dass wir ganz in der Nähe seien und ich keine Angst haben müsse, sie würden bald wieder nach Hause kommen.“
Diese Abende und die damit verbundenen heftigen Angstgefühle habe ich nie wieder vergessen und kann sie heute noch nachfühlen. Ich konnte nie einschlafen und hatte panische Angst vor Einbrechern und anderen bösen Gestalten. Jedes kleinste Geräusch versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich versteckte mich unter der Decke und atmete kaum noch, so dass mich niemand hören und finden konnte. Es waren für mich unendliche Stunden, die Zeit schien stillzustehen. Erst als ich meine Eltern kommen hörte, konnte ich mich langsam beruhigen. Als sie dann bei mir ins Zimmer schauten, stellte ich mich immer schlafend. Ich wollte nicht, dass ich getadelt werde, weil ich immer noch wach lag. Und so musste ich immer wieder diese schrecklichen Gefühle des Verlassenwerdens von neuem erleben, die ständige Wiederholung der ersten traumatischen Gefühle in meinem Leben. Meine Eltern waren sich dessen offenbar nicht