Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink
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kommen. Verrückt! Neulich in Zandvoort wäre eine ganze Menge beinahe ersoffen, wenn man sie nicht noch
rechtzeitig herausgezogen hätte."
"Meinen Sie das im Ernst, oder machen Sie bloß Spaß?"
"Nein, nein, mein voller Ernst. Haben Sie denn nicht davon gelesen? Der Religionswahnsinn bricht jetzt überall aus,
wohin man schaut. Vorläufig sind's ja meist nur die Armen, die davon befallen werden, aber" – Zitters ärgerliche Miene
hellte sich auf bei dem Gedanken, daß vielleicht bald eine Zeit kommen könne, wo sein Weizen blühen würde – "aber
es wird nicht lange dauern, dann packt's die Reichen auch. Ich kenne das." – Froh, wieder ein Gesprächsthema
gefunden zu haben, denn Hauberrisser hatte gespannt aufgehorcht, wurde er sofort wieder geschwätzig. "Nicht nur in
Rußland, wo von jeher die Rasputins und Johann Sergiews und andere Heilige aus dem Boden wuchsen, – in der
ganzen Welt breitet sich der Wahnsinn aus, daß der Messias kommt. Sogar unter den Zulus in Afrika gärt's schon; da
läuft zum Beispiel dort ein Nigger herum, nennt sich 'der schwarze Elias' und tut Wunder. Ich weiß das ganz genau von
Eugène Louis" – er verbesserte sich rasch – "von einem Freund, der kürzlich dort auf Leopardenjagd war. Einen
berühmten Zuluhäuptling kenne ich übrigens selber von Moskau her" – sein Gesicht wurde plötzlich unruhig – "und,
wenn ich's nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich's nie geglaubt haben: Der Kerl, in allen andern Tricks ein
Mordsesel, kann wahrhaftig, so wahr ich hier sitze, zaubern. Ja ja: zaubern! Lachen Sie nicht, lieber Hauberrisser; ich
hab' selber gesehen, und mir macht kein Artist was vor", er vergaß einen Moment ganz, daß er die Rolle eines Grafen
Ciechonski zu spielen hatte, – "das Zeug kann ich selber auf dem ff. Wie er's macht, weiß der Teufel. Er sagt, er habe
einen Fetisch, und wenn er den anruft, wird er feuerfest. Tatsache ist: Er macht große Steine rotglühend – Herr, ich
hab' sie selbst untersucht! – und schreitet langsam drüber weg, ohne sich die Füße zu verbrennen." In der Erregung fing
er an, an seinen Fingernägeln zu beißen, und brummte in sich hinein: "Aber wart nur, Bursche, ich komme dir schon
dahinter." – Erschreckt, daß er sich möglicherweise zuviel habe gehenlassen, nahm er schnell wieder die polnische
Grafenmaske vor und leerte sein Glas, "Prost, ljieber Hauberrisser, prost, prost. Vielleicht sehen Sie ihn einmal selber,
den Sulu; ich chöre, er ist in Cholland und tritt in einem Zirkus auf. Aber wollen wir jetzt nicht nebenan im Amstelroom
einen Imbiß –"
Hauberrisser stand rasch auf, der "Graf" interessierte ihn an Herrn Zitter Arpád ganz und gar nicht. "Bedaure lebhaft,
aber ich bin für heute vergeben. Vielleicht ein anderes mal. Adieu. Sehr gefreut."
Verblüfft durch den kurzen Abschied, sah ihm der Hochstapler mit offnem Munde nach.
Drittes Kapitel
Von einer wilden innern Aufregung ergriffen, über deren Ursache er sich keinerlei Rechenschaft zu geben vermochte,
eilte Hauberrisser durch die Straßen.
Als er an dem Zirkus vorüberkam, in dem die Zulutruppe Usibepus auftrat – Zitter Arpád konnte nur sie gemeint
haben –, überlegte er einen Augenblick, ob er sich die Vorstellung ansehen solle, ließ aber gleich darauf seinen
Entschluß wieder fallen. Was kümmerte es ihn, ob ein Neger zaubern konnte; Neugierde nach Ungewöhnlichem war
es nicht, das ihn umhertrieb und ruhelos machte. Etwas Unwägbares, Gestaltloses, das in der Luft lag, peitschte seine
Nerven auf, – derselbe rätselhafte Gifthauch, der ihn zuweilen, noch ehe er nach Holland gereist war, so heftig gewürgt
hatte, daß er in solchen Fällen unwillkürlich mit Selbstmordideen spielte.
Er überlegte, woher es diesmal wieder gekommen sein mochte. Ob es von den jüdischen Auswanderern, die er
gesehen hatte, wie eine Ansteckung auf ihn übergegangen war?
"Es muß der gleiche unbegreifliche Einfluß sein, der diese religiösen Fanatiker über die Erde jagt und mich aus
meiner Heimat vertrieben hat", fühlte er; "bloß unsere Motive sind verschieden."
Schon lange vor dem Kriege hatte er diesen unheimlichen seelischen Druck an sich erfahren, nur war es damals noch
möglich gewesen, ihn durch Arbeit oder Vergnügen zeitweilig zu unterdrücken; er hatte ihn als Reisefieber, als nervöse
Launenhaftigkeit, als Begleiterscheinung falscher Lebensführung gedeutet, dann später, als die Blutfahne über Europa
zu flattern begann: als Vorahnung der Ereignisse. Aber warum steigerte sich jetzt nach dem Kriege dieses Gefühl noch
von Tag zu Tag fast bis zur Verzweiflung? Und nicht nur bei ihm – fast jeder, mit dem er darüber gesprochen hatte,
wußte von sich selbst Ähnliches zu berichten.
Sie alle, wie er, hatten sich damit getröstet, wenn der Krieg beendet sei, werde der Frieden auch in den Herzen der
einzelnen wiederkehren. Statt dessen war genau das Gegenteil eingetreten.
Die banale Weisheit der gewissen Hohlköpfe, die gewohnheitsgemäß bei allem und jedem die billigste Erklärung zur
Hand haben und die Fieberschauer der Menschheit auf gestörte Behaglichkeit zurückführten, – konnte sie das Rätsel
lösen? Die Ursache lag tiefer.
Gespenster, riesenhafte, formlos und nur erkennbar an den entsetzlichen Verheerungen, die sie angerichtet, bei den
heimlichen Sitzungen kaltherziger, ehrgeiziger Greise um den grünen Tisch herum entstandene Gespenster hatten sich
Millionen von Opfern geholt und sich dann scheinbar wieder für einige Zeit schlafen gelegt; aber jetzt erhob das
grauenhafteste aller Phantome, längst schon zu lauerndem Leben erweckt durch den Fäulnishauch einer verwesenden
Scheinkultur, sein Medusenhaupt vollends aus dem Abgrund und höhnte der Menschheit ins Gesicht, daß es nur ein
Rad der Qual gewesen war, das sie im Kreise getrieben hatte im Wahn, dadurch für kommende Geschlechter die