Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink
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Wirklichkeit decken wie sonst, wo er derlei Dinge auf die leichte Achsel genommen und sie möglichst rasch wieder zu
vergessen getrachtet hatte. Pfeills Erinnerung an das olivgrün schimmernde Gesicht mit der schwarzen Binde über der
Stirn hatte eine greifbare Grundlage gehabt: Ein Porträt, das angeblich in Leyden hing, – aber woraus war die
Traumvision, ebenfalls von einem olivgrün schimmernden Gesicht mit einer schwarzen Binde über der Stirn, die er kurz
vorher im Laden des Chidher Grün gehabt hatte, entsprossen?
"Die Wiederkehr des seltsamen Namens 'Chidher' in dem kurzen Zeitraum von einer Stunde, – einmal als
Firmenschild, dann als sagenhafte Bezeichnung für die Figur des Ewigen Juden, wunderbar genug ist es ja", sagte sich
Hauberrisser, "aber es gibt wohl wenig Menschen, die nicht derartige Beobachtungen in Menge gemacht hätten.
Woher es kommen mag, daß Namen, die man früher nie gehört hat, plötzlich serienweise auf einen losprasseln, daß
ferner die Leute auf der Gasse, wie das so häufig geschieht, einem Bekannten, den man jahrelang nicht mehr getroffen
hat, immer ähnlicher und ähnlicher sehen, bis er selbst gleich darauf um die Ecke biegt – ähnlich, nicht nur in der
Einbildung, nein: photographierbar ähnlich, so ähnlich, daß man an den Betreffenden denken muß, ob man will oder
nicht, – woher das alles kommen mag? Ob Menschen, die einander ähnlich sehen, nicht auch ein ähnliches Schicksal
haben? Wie oft habe ich es schon bestätigt gefunden. Das Schicksal scheint so etwas wie eine unvermeidliche
Begleiterscheinung der Körperbildung und Gesichtsform zu sein, an ein bis ins kleinste greifendes Gesetz der
Übereinstimmung gebunden. Eine Kugel kann nur rollen, ein Würfel nur kollern, warum sollte ein Lebewesen mit
seinem tausendfach komplizierten Dasein nicht mit ebenso gesetzmäßigen, aber nur tausendfach komplizierteren
Erlebnisvorausbestimmungen vor eine Deichsel gespannt sein! – Ich kann es sehr wohl verstehen, daß die alte
Astrologie nicht aussterben kann und heute vielleicht mehr Anhänger zählt, als jemals früher, und daß jeder zehnte sich
ein Horoskop stellen läßt; nur sind die Menschen offenbar auf dem Holzweg, wenn sie glauben, die sichtbaren Sterne
am Himmel bestimmten den Schicksalsweg. Es wird sich da um andere 'Planeten' handeln, um solche, die im Blut um
das Herz kreisen und andere Umlaufszeiten haben als die Himmelskörper: Jupiter, Saturn usw. – Wenn gleicher
Geburtsort, gleiche Geburtsstunde und Geburtsminute allein das entscheidende wären, wie könnte es dann sein, daß
Monstrositäten wie die zusammengewachsenen Schwestern Blaschek, die doch in derselben Sekunde geboren
wurden, ein so verschiedenes Schicksal hatten, daß die eine Mutter wurde und die andere Jungfrau blieb?
Ein Herr in weißem Flanellanzug, roter Krawatte, einen Panamahut ein wenig schief aufgesetzt, die Finger überladen
mit protzigen Ringen und ein Monokel ins dunkel glühende Auge geklemmt, war bereits vor längerer Zeit an einem
entfernten Tische hinter einer großen ungarischen Zeitung aufgetaucht und hatte sich nach mehrmaligem Platzwechsel –
als störe ihn überall die Zugluft – bis dicht an Hauberrisser herangepirscht, ohne daß ihn dieser in seinem Grübeln
bemerkt hätte.
Erst als der Fremde sich mit auffallend lauter Stimme beim Kellner nach Amsterdamer Vergnügungslokalen und
sonstigen Sehenswürdigkeiten erkundigte, wurde Hauberrisser aufmerksam, und der Eindruck der Außenwelt
scheuchte sofort seine tiefsinnigen Betrachtungen in das Dunkel zurück, aus dem sie aufgestiegen waren.
Ein schneller Blick überzeugte ihn, daß es der Herr "Professor" Zitter Arpád aus dem Vexiersalon war, der da so
sichtlich bestrebt schien, den gänzlich unorientierten, soeben erst aus der Eisenbahn gestiegenen Neuankömmling zu
spielen.
Wohl fehlte der Schnurrbart, und die Pomade war in ein neues Strombett geleitet worden, aber die Gaunervisage
des unverkennbaren "Preßburger Hähndelfangers" hatte dadurch nicht das mindeste an Ursprünglichkeit eingebüßt.
Hauberrisser war viel zu gut erzogen, um auch nur mit einem Wimpernzucken zu verraten, daß er sich erinnere, wen
er vor sich habe; überdies machte es ihm Spaß, die feinere List des Gebildeten der grobdrähtigen des Ungebildeten
entgegenzustellen, der immer und überall glaubt, eine Verkleidung sei gelungen, bloß weil der, dem die Täuschung
gelten soll, nicht sofort in komödiantenhaft plumpes Gebärdenspiel und Stirnrunzeln verfällt.
Daß der "Professor" ihm heimlich ins Café nachgegangen war und irgendeine balkanesische Halunkerei im Schilde
führte, stand für Hauberrisser außer Zweifel; um jedoch ganz sicher zu sein, daß ihm und nicht noch anderen der
Mummenschanz galt, machte er eine Bewegung, als wolle er zahlen und gehen. Sofort malte sich ärgerliche Bestürzung
in den Mienen des Herrn Zitter.
Hauberrisser schmunzelte befriedigt in sich hinein; "die Firma Chidher Grün – angenommen, der Herr Professor ist
tätiger Teilhaber – scheint ja über die mannigfaltigsten Hilfsmittel zu verfügen, wenn es gilt, ihre Kunden im Auge zu
behalten: – duftende Damen mit Pagenfrisur, fliegende Korke, gespenstische alte Juden, prophetische Totenköpfe und
weißgekleidete talentlose Spione! Allerhand Hochachtung!"
"Irgendeine Bank gibt es wohl hier in der Nähe nicht, Kellner, in der man ein paar englische Tausendpfundnoten in
holländisches Geld umwechseln lassen könnte, wie?" fragte der Professor nachlässig, aber wieder mit sehr lauter
Stimme und tat sehr ärgerlich, als er eine verneinende Antwort bekam. "In Amsterdam ist es scheinbar recht schljecht
mit dem Kljeingeld bestellt", brach er, halb zu Hauberrisser gewendet, ein Anknüpfungsgespräch vom Zaum. "Schon
im Hotel hatte ich Schwjierigkeiten damit."
Hauberrisser schwieg.
"Ja, hm, recht vjiel Schwjierigkeiten."