Das Mädchen Namenlos. Beate Helm
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Wir wussten schließlich nichts über dieses unbekannte Leben, in das wir so bald entlassen werden sollten. Vielleicht drohte ja tatsächlich Gefahr. Vielleicht bedeutete der große Tag des Aufbruchs auch gleichzeitig der Moment des Abschiednehmens, der Auflösung unserer so eng zusammengeschmiedeten Gemeinschaft.
Doch vielleicht war es auch traumhaft schön. Wir hätten mehr Raum, Luft und Abwechslung. Wir könnten die Endlosigkeit der Weite spüren, selbst am Leben der Großen teilnehmen und ausfliegen, um etwas ganz Neues zu erleben.
So begann sich nach und nach die kindliche Vorfreude in uns durchzusetzen. Die Angst verlor sich in einem erwartungsvollen Überschwang und dem letztmaligen Eintauchen in die gemeinsamen Erinnerungen.
Unsere Worte sprudelten durcheinander. Wir lachten und erzählten die alten Geschichten, als wir noch klein und unbeholfen waren, unsere ersten Krabbelversuche machten und sprechen lernten. Viel Spaß hatten wir in dieser Zeit bei dem gemächlichen Erwachsenwerden, das niemand von außen störte und das uns so eng miteinander verbunden hatte.
Wir redeten noch viele Stunden lang und gaben alles an Erinnerungen in den bunten Topf der Worte und des Gelächters. Es war eine Runde des fröhlichen Miteinanders, voll übermütiger Geschöpfe, die jedoch tief innen wussten, was bald geschehen würde.
Der nächste Tag brach an.
In unser geschäftiges Beisammensein vertieft, fiel uns gar nicht auf, dass die ersten Sonnenstrahlen erwacht waren. Sie fingen mit gewohnter Kraft an, unsere Heimat aufzuwärmen und mit angenehmem Licht zu erfüllen. Der Morgen war da.
Es wurde ruhig. Wir umarmten uns noch einmal. Dann saßen wir in engem Kreis beisammen wie eine verschworene Gemeinschaft, der niemand etwas anhaben konnte, und warteten ab.
Sanft klopfte es an unser Heim. Eine weiche, klare Stimme beugte sich über die Öffnung, die wir bisher als geheim geglaubt hatten. Es war die Mutter aller Wesen, die leise flüsterte, als sie uns mit ihrem großen Herzen Lebwohl sagte.
Sie erklärte in ruhigen Worten, wie sehr sie uns liebgewonnen hätte, jede auf ihre Art und Besonderheit. Sie sei sicher, dass wir alle unseren Weg in der Welt draußen finden würden. Zum Abschied wollte sie uns noch ein letztes großes Geheimnis, ein Geschenk unserer Gemeinschaft mitgeben.
Eine besondere, einzigartige Formel, die außer uns niemand je erfahren durfte. Eine Formel, die die Fee des Schutzes herbeirufen würde, wenn wir uns in großer Not befänden.
Dann wurde ihr Flüstern ganz leise, hauchte sie fast nur noch in die kleine Öffnung hinein: Drei Worte in einer fremdartigen Sprache, die sie klar und deutlich sagte und die wir auf immer im Gedächtnis behalten sollten. Drei Worte, mit denen uns sogleich Hilfe zuteil würde, wenn wir keinen Lebensmut mehr hätten und Angst und Leid unser Leben bestimmten in der Weite des unbekannten Lebenslandes.
So plötzlich wie die Mutter aller Wesen aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder.
Eine feierliche Stimmung berührte unseren Kreis. Stille. Uns an den Händen fassen und das Gesprochene langsam wirken lassen.
Worte als Notanker, wenn es uns schlecht ginge in dieser neuen Welt des Erwachsenwerdens.
Ganz ruhig saßen wir beisammen. Keiner war fähig, etwas zu dem zu sagen, was wir gerade erfahren hatten.
Ruhe und Vertrauen verbanden uns, eine tiefe Ergebenheit in unser Schicksal.
Schon spürten wir den nahenden Vater Wind. Mit sanfter Wucht trat er in die kleine Öffnung ein, weitete sie behutsam und stob unsere Heimstätte mit einem Mal auseinander.
Ein warmer Luftstrom hob uns heraus und nahm uns in sein Gewahrsam, ab in die Höhen der Lüfte.
Wir waren gebannt, fasziniert und voller Tränen zugleich. Ein letzter Druck der Hände und schon blies der Wind uns auseinander, jede in ihre ganz besondere Bestimmung hinaus.
Der Abschied war so schnell gegangen, dass wir nicht einmal mehr Zeit hatten für ermutigende Worte. Ein tiefer Blick in die Augen der anderen musste genügen, als letztes Zeichen der Verbundenheit, die für immer währen sollte.
Über den Wolken
So war ich plötzlich allein. Das erste Mal in meinem Leben. Die Tränen flossen endlos in die stützenden Arme des Windes, der mich von nun an trug. Er begann, mir die bunte, weite Welt, die unfassbaren Höhen, in die er sich aufschwingen konnte, zu zeigen, sie mir schmackhaft zu machen und den Seelenschmerz der Trennung vergessen zu lassen.
Er gab sich alle Mühe, mich abzulenken und mir das Gefühl zu geben, dass ich nicht nur ein Leben verloren, sondern auch ein neues dafür gewonnen hatte.
Mit Zögern ließ ich mich auf sein Angebot ein.
Ganz langsam zeigte ich mich offener gegenüber seinem sanften Hauchen, dem Wehen durch meine Härchen und dem Trocknen der letzten Tränen.
Munter hob er mich durch die Lüfte. Er berührte zärtlich meine Haut und gab aus tiefstem Herzen alles, um mich den Abschied leichter verschmerzen zu lassen.
Ich lehnte mich zurück und fühlte mich zunehmend wie neu geboren. Langsam begann ich, die Lebensfreude zu genießen, die von allen Seiten auf mich zukam. Ich sah die zwitschernden Vögel an unserer Seite und das geschäftige Treiben auf der Erdenwelt, die unter uns vorüber zog.
Ich wurde mehr und mehr angesteckt von den vielen verschiedenen Lauten und Düften der Umgebung. Aus allen Richtungen kam sprudelnde, freudvolle Lebenslust, die überschäumende Kraft, die das Schwingen in dem alles verbindenden Herzenspol mit sich brachte. Bereitwillig schloss ich mich an diese Quelle an, von der der Wind in seinen Erzählungen so geschwärmt hatte.
Ich wurde ganz ruhig und genoss das sanfte Segeln in den Höhen der Lüfte. Lange Zeiten flogen wir zusammen, erzählten uns Geschichten, scherzten und lachten, tobten miteinander und gönnten uns dann wieder wohltuende Stille.
Wir waren ein munteres Paar. Mal schwebten wir kaum spürbar über die Wälder, dann bliesen wir so heftig über Städte und Dörfer hinweg, dass ich mich festhalten musste, um nicht verloren zu gehen.
Ich war glücklich und spürte, wie mein Herz sich weit öffnete und ich bereit war, alles hinter mir zu lassen an Vergangenheit und bisher Bekanntem.
Wie ein riesenhafter Vogel kam ich mir vor, der mit breiten Schwingen den Himmel durchstreifte. Ich war im Einklang mit den verschiedenen Lüften, Böen und Turbulenzen, dem ständigen Auf und Ab, und den gewaltigen Stürmen, die über das Land fegten. Sie sollten Unruhe und Abwechslung mit sich bringen, wenn sie durch das Geäst der Bäume, über die Wiesen und Täler rauschten. Ihre Aufgabe war es, die Menschen wachzurütteln aus ihrem täglichen Einerlei, ihren immer gleichen Gedanken und dem gewohnten Tageswerk.
Meist wurde ich begleitet von meinen neu gewonnenen Vogelfreunden. Wie oft haben wir herumgealbert oder lange Gespräche geführt. Ich erfuhr viel über die Geschichten des Lebens, über