Die Gewalt des Sommers. Gunter Preuß

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Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß

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mich kannst du gar nichts wissen.“

      „Ich weiß schon, dass du die Ulli magst.“ Ralle hüstelte. „Und sie mag dich.“

      „Erzähle bloß nicht so was.“

      „Ich spinne nicht, Alter. Kein bisschen.“

      Boris gab dem Zwang nach, die Augen zu öffnen, sah aber Ralle nicht an.

      „Du hast verdammtes Glück, Alter.“ Ralle zupfte einen Grashalm und steckte ihn sich zwischen die Lippen, die aussahen, als hätte er gerade Kirschen gegessen. Der gelbe Halm wippte unregelmäßig. „Ich werde nie solches Glück haben.“

      „Glück?“, fragte Boris verwundert. „Wie kommst du denn darauf?“

      Ralle rieb sich derb die Stirn, er druckste schließlich: „Jemand will dich.“

      „Du meinst - Ali ...?“

      „Ach, hör doch auf mit Ali!“

      Ralle hob eifrig die rechte Hand mit dem gestreckten Zeigefinger.

      „Hör doch mal. Hör doch.“

      Vom Essenszelt waren Rufe zu hören.

      „Frühstück! - Boris! - Wo bleibst du denn?“

      „Sie rufen“, sagte Ralle und stand schwerfällig auf. „Und nach wem rufen sie?“

      „Nach uns“, meinte Boris verlegen. „Du hörst es doch.“

      „Nicht nach uns.“ Ralle spuckte den Halm weg und schüttelte den trotz seiner Körperfülle zu groß wirkenden Kopf. Um die rotgoldene Haarflut beneideten ihn die Mädchen. Manchmal zupfte eines daran.

      „Nach dir rufen sie. Das ist der Unterschied, Alter.“

      Boris sagte gequält: „Ach was.“

      „Ich denke, wir sollten endlich für Kalorienzufuhr sorgen.“ Ralle wirkte wieder gefasst. „Ich habe mordsmäßigen Kohldampf.“

      Boris sprang auf und hielt den Jungen am Arm fest. Er wollte ihm alles erzählen. Vom verschwundenen Vater. Von dem riesigen Haus inmitten der Stadt, rostige Eisenstäbe vor den Fenstern, die herbeigesehnte Stunde, die dann nicht vergehen wollte, der fensterlose Raum, die Mutter ihm gegenüber, ein fleckiger Tisch zwischen ihnen, der unüberwindlich war. Wie sie kaum ein Wort herausbrachten. Von der Zeit im Heim, wo er gar nicht mehr gesprochen hatte. Vom verloren gegangenen Gesicht der Mutter. Von Vera wollte er erzählen, wie gern er ihr fröhliches Schwatzen hören würde, vom Brief, den er ihr geschrieben hatte. Von dieser Ulli wollte er sprechen, wie er sich sehnte, sie zu berühren.

      Er sagte eindringlich: „Aber dich will doch auch jemand, Mensch.“

      „Ach ja? Wer denn?“ Ralle riss sich los und stieß Boris zurück. „Du vielleicht!“

      Boris war zurückgeschreckt. Da stand ihm jemand gegenüber, der war imstande zuzuschlagen, zu treten, mit einem Messer auf ihn einzustechen, ja zu töten. Das dauerte nur eine Sekunde, dann hatte er wieder den bleichen, schwammigen Jungen in seinem Schwulenfrack vor sich.

      „Wenn du willst“, sagte Boris von sich selbst überrascht, „wenn du willst, können wir - Freunde sein.“

      Ralle stand reglos. Dann schlug er Boris weich auf die Schulter und rief aufgedreht: „Du bist doch ein Arsch. Mann, was bist du doch für ein Arsch!“

      Ralle lachte, es schüttelte ihn, er verschluckte sich und konnte sich einfach nicht beruhigen. Boris duckte sich, immer wieder platschte ihm die Hand auf die Schulter.

      „He, hallo, also Alter!“

      Sie hatten Ali nicht kommen hören. Der sah ungläubig auf die beiden Jungen und sagte dann gereizt: „Darf ich mitlachen?“

      Ralle verstummte, steckte die Hände in die Taschen des Bademantels und ging schleppend zum Essenszelt. Boris senkte unter Alis tadelndem Blick den Kopf. Er stammelte: „Das war nur so – ein Blödsinn.“

      Ohne ein weiteres Wort wandte sich Ali ab und verließ mit raumgreifenden Schritten den Waschplatz. Boris beeilte sich, ihm zu folgen. Er hatte das Handtuch auf der Erde liegen lassen, wagte aber nicht umzukehren. Am Zelteingang machte Ali eine unerwartete Kehrtwendung, dass sie zusammenprallten. Der Pionierleiter sagte streng: „Pass auf, mit wem du dich abgibst.“

      „Ja, Ali“, versicherte Boris. „Das will ich.“

      10.

      Am Sonnabendmorgen sprühte es, als würden Schleier in verschiedenen Grautönen auf die Erde heruntergelassen. Der eben noch tobende Wind war ins Landesinnere gezogen. Himmel und See waren wie blinde Spiegel, die hier und da einen Riss zeigten, der sich gleich wieder schloss. Für den späten Abend hatte Ali den Kampf zwischen Boris und Kalinke angesetzt.

      Beim Mittagessen war es ungewöhnlich still im Zelt. Selbst die Lämmsel, Pädagogikstudentin und jüngste Betreuerin, von gewaltiger Körperfülle, die mit vibrierender Stimme gewöhnlich den ganzen Tag über schwätzte, blieb stumm. Ihr Freund, ein langmähniger und vollbärtiger Kerl, war mit dem Motorrad zu Besuch gekommen. Er hatte seinen dicht behaarten Arm um ihre Schultern gelegt und blickte herausfordernd in die Runde. Die Lämmsel, die sonst immer eine Gelegenheit fand, einen der Männer überfallartig zu umhalsen und „abzubusseln“, wobei sie nur Lehrer Standke verschonte, wirkte geduckt. Aus ihren Maulwurfaugen im feuchten Puppengesicht huschten kurzsichtige Blicke durch das Zelt, als suchte sie ein Loch, durch das sie entschlüpfen könnte.

      Boris sah unwillkürlich zu Ali, der angewidert auf das gigantische Pärchen blickte. Dabei war es gerade der Pionierleiter, den die Lämmsel am liebsten in ihrer Umarmung gefangen hielt. Ali hatte sie einmal so heftig zurückgestoßen, dass sie hinstürzte und zwei Frauen ihr helfen mussten wieder auf die säulenartigen Beine zu kommen. Der Pionierleiter hatte sich entschuldigt, aber es war ihm anzusehen gewesen, dass es ihm nicht leidtat.

      Boris löffelte hastig etwas Suppe und verdrückte sich nach draußen. Er rutschte den Steilhang hinunter und platschte in Sandalen durch knöchelhohe See den Strand entlang. Bald wurde er von Grenzsoldaten gestoppt und zurückgewiesen. Er kletterte zurück auf die Klippe und schlenderte durch die Heide nach Dranske hinüber.

      Boris wusste nicht, warum er unterwegs war. Am Tag des Kampfes noch zu üben brachte schließlich nichts. Am Vormittag hatte er eine leichte Gymnastik absolviert und ein paar Schlagkombinationen geübt. Weitere Anweisungen von Ali gab es nicht. Boris hatte nach Ralle gesucht, der auch im Zelt nicht zu finden war, wohin er sich manchmal zurückzog. Es war ihm bewusst geworden, dass Ralle beim letzten Trainingslauf nicht dabei gewesen war. Irgendwie fehlte ihm die Nähe des behäbigen Jungen mit seinen versponnenen Ansichten.

      Boris fuhr herum. Der feine, aber dichte Regen ließ ihn nicht weit sehen. Kopfschüttelnd lief er weiter. Wieder schaute er sich um. Da war keiner. Wer sollte außer ihm bei diesem Hundewetter auch unterwegs sein. Im Lager wurde am Nachmittag ein französischer Film gezeigt. Die Mädchen hatten gesagt, dass man ihn gesehen haben müsste.

      Die Luft war schwer und klebrig, sie roch nach verwesendem Fisch. Boris hatte sich bei Dschugaschwili nicht abgemeldet. Das würde Ärger geben. Er versuchte durchzuatmen. In der Schule hatte er

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