Die Gewalt des Sommers. Gunter Preuß
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Seine drei Zeltgenossen schliefen noch fest. Der stämmige Kalinke, der keiner Rauferei aus dem Weg ging, hatte den Kopf auf seine Boxhandschuhe gebettet. Neben ihm hatte sich der lang aufgeschossene Horst eingerichtet. Um seine Augen zuckte es, als sollte ihnen auch im Schlaf nichts entgehen. Der Dickwanst Ralph Malisch hatte ein abwehrendes Lächeln im blassen Gesicht.
Die drei Jungen, die Boris aus Lerchau kannte, erschienen ihm verändert. Sie hatten andere Gesichter bekommen, waren sich manchmal nur noch entfernt ähnlich. Auch die anderen Jungen und Mädchen, ob nun aus seiner Klasse oder aus einer anderen, waren anscheinend nicht mehr dieselben. Sie saßen ja in den Klassenzimmern zusammen, trafen sich nach der Schule im Dorf und liefen sich hier und da über den Weg. Auf der Insel, beim gemeinsamen Essen, zu den Ausflügen und beim Baden im Meer, erlebte er sie anders. Er achtete auf ihre Stimme, hörte sie atmen und las aus ihren Gesichtern, was ihm sonst verborgen geblieben war. Auch er selbst versetzte hin und wieder einen von ihnen in Erstaunen. Dabei meinte er, sich wie sonst auch zu verhalten. Er war neugierig geworden. Manchmal war ihm danach, einem Jungen oder Mädchen, wer gerade in seiner Nähe war, Fragen zu stellen, um mehr von ihm oder ihr zu erfahren. Vor allem aber war er neugierig auf sich selbst. Manchmal hatte er das Gefühl, als hätte er es tatsächlich mit einem anderen zu tun.
Boris öffnete mit klammen Fingern die verschnürte Zeltplane. Er rutschte auf den Knien nach draußen, atmete gierig ein und verharrte. Es war keine Nacht mehr, aber auch noch nicht Tag, es waren die Minuten, wo sich beide umarmten, um gleich darauf wieder voneinander Abschied zu nehmen. Der fast einen halben Meter große Kolkrabe, dessen Käfig vor Alis Zelt an einem Pfahl hing, drehte ihm den Kopf zu und schüttelte sein wie mit dunkelblauem Lack überzogenes Gefieder.
Die frühen Morgenstunden waren Boris nicht unbekannt. Die Großeltern standen täglich früh auf, obwohl sie inzwischen beide in Rente waren. Bruno arbeitete täglich noch ein paar Stunden im Möbelkombinat. Auch Anna war bislang halbtags in der Küche des Drehmaschinenwerks beschäftigt. Die beiden waren von jeher gewohnt in aller „Herrgottsfrühe“, welche Anna für die „segensreichste Zeit des Tages“ hielt, aufzustehen. Für Boris war es auch mit dem Schlaf vorbei, wenn in der Küche die Dielen knarrten und er bald darauf aus Stall und Hof Grunzen, Gackern und Meckern hörte. Dreimal in der Woche kehrten um diese Zeit auch die Düsenjägerstaffeln der Sowjets, die um Mitternacht im Tiefflug das Dorf überquert hatten, zu ihrem Fliegerhorst in die Dübener Heide zurück.
Hier an der Küste war der Morgen ganz anders, irgendwie weiter und scheinbar lautlos. Dann die Frische der Luft, der intensive Geruch nach Harz, der sich klebrig auf der Zunge ablagerte. Das wabernde blaue Licht vom Meer. Die schaukelnden Wipfel der Fichten, die ihn, den Kopf im Nacken, in ein beruhigendes Gefühl regelmäßigen Pendelns versetzten.
Eine Singdrossel flötete aus eng ineinander verhakten Wildrosenbüschen. Ein kleiner Vogel, wohl ein Zaunkönig, den Boris nur von Abbildungen kannte, flog schnurrend aus den Büschen am Boden entlang, setzte sich auf eine Leine mit aufgehängten Badesachen und sang rollend. Da erwachte eine Blaumeise aus dem Schlaf. Nach einem lockenden „sit sit“ ließ sie es glockenhell klingeln, was von hier und da erwidert wurde.
Der Junge zog hastig den Trainingsanzug aus und die Badehose an. Er rannte barfuß den mit Wurzeln überzogenen Waldweg bis zur Steilküste, schlüpfte unter einem Absperrband durch und stand am Rand der Klippe. Die Tage zuvor war er die Stufen hinuntergegangen, die Jungen hatten „Feigling!“ gerufen. Es hätte ihm nichts ausgemacht sozusagen blind zu springen, denn die Steilküste stand zum Meer hin etwas über, wobei das darunterliegende Stück nicht einzusehen war. Das Gehabe der Jungen war ihm einfach zu angeberisch und die Geheimnistuerei der Mädchen zu albern. Sie sprachen manchmal über ihn. Er tat, als hörte er es nicht. „Lach doch mal“, hatte ein Mädchen aus der Gruppe gerufen. Er hatte sich abgewandt. Seinen Schwur, nicht zu lachen, bis er das Gesicht der Mutter wiederfand, würde er nicht brechen. Auch der Vater war weg. Der war drüben. Für Boris war er gestorben. „Mit einem Toten lässt sich leichter leben als mit einem Lebenden, der nicht mehr da ist.“ Das sagte Bruno, bekräftigt mit einer wegwischenden Handbewegung, wenn Anna manchmal vorsichtig auf ihren Sohn zu sprechen kam.
Zu dieser Stunde erschien Boris das Meer grenzenlos. Sein kühles Blau erweckte den Anschein, als sei es noch unberührt. Boris verlangte es danach, einzutauchen und sich bis auf den Grund sinken zu lassen. Er trat ein paar Schritte zurück, sprintete los und sprang mit zum Kinn angezogenen Knien weit hinaus. Er landete weich in einer Sandkuhle, stieß sich gleich wieder ab, dass er wie auf einer Rutsche in Schussfahrt zum Strand hinunterglitt. Wieder auf den Füßen, musste er rennen, bis dann das Wasser ihn in Hüfthöhe abbremste.
Sein Schrei, den er so lange zurückgehalten hatte, schreckte ein paar Möwen auf. Sie hoben von den morschen Buhnenpfählen ab und kreisten schimpfend über ihm. Ihr „Krrjäh“ war ihm vertraut, als wäre er unter ihnen aufgewachsen, er hatte es eben nur lange nicht gehört. Das Meer, das ihn wie mit kühlen Händen anfasste, erinnerte an einen alten Freund, der früher, in längst vergessener Zeit, mit ihm gespielt hatte. In diesem Moment war ihm die Welt näher als sonst. Sie erschien ihm kleiner und leichter zu verstehen. Zugleich aber war sie unendlich größer und unentdeckt.
Langsam tauchte er ins Wasser ein und schwamm unter seiner Oberfläche, bis es ihn zum Auftauchen zwang. Das Ufer war weit weg, er fühlte sich gut aufgehoben hier draußen, begann zu planschen, drehte sich im Kreis, tauchte, bis ihm die Luft ausging, und genoss es, steil an die Oberfläche zurückzuschießen und mit aufgerissenem Mund einzuatmen.
Als er wieder in der Tiefe war, kam etwas auf ihn zu geschwommen. Er dachte an einen sich in die Ostsee verirrten Delfin, an eine Robbe; schließlich sah er, dass es ein Mensch war.
Sie tauchten gleichzeitig auf. Es war Ali, den Boris trotz der Taucherbrille und der Wäscheklammer auf den Nasenflügeln gleich erkannte. Sie schwammen nebeneinander zum Ufer zurück. Boris glich seine Schwimmbewegungen denen von Ali an, die ruhig und kräftig waren. Die letzten hundert Meter forderte Ali ihn mit einem Kopfnicken heraus. Sie kraulten, doch so sehr der Junge sich anstrengte, sein Kontrahent erreichte knapp vor ihm das Ufer.
Sie schüttelten sich wie Hunde. „Nicht schlecht, Kämpfer“, sagte Ali. „Mach was aus dir, sag ich doch, aber immer.“
Boris nickte. Zu dem, was der Pionierleiter sagte, konnte man nur nicken. Auch die anderen Jungen, mochten sie noch so aufsässig sein, widersprachen ihm nie. Bei Ali erschien alles, was manchmal so kompliziert und nur schwer zu ertragen war, verblüffend einfach. Er erklärte die Welt als Boxring: „Gibt nur dich und deinen Gegner. Den hast du zu besiegen. Durch k. o., möglichst. Kann dir kein Kampfgericht den Sieg nehmen, stimmt.“
Ali ließ sich vornüber auf den Sand fallen, pumpte exakte Liegestütze, und der Junge tat es ihm nach. Boris hatte sich früher nichts aus Sport gemacht. Es war ihm sinnlos erschienen, sich anzustrengen und zu schwitzen, ohne zu wissen, wofür. Doch dann war er aus der Stadt ins Dorf und an der neuen Schule in Alis Pioniergruppe gekommen. Ali hatte ihm kraftvoll die Hand geschüttelt, ihn mit taxierenden Blicken umkreist, dann auf die Schulter geklopft und gesagt: „Untrainiert. Ausbaufähig, schätze ich. Ein Kämpferherz, mal sehen. Zum Boxtraining, komm mal. Kalinke sagt dir, was Sache ist. Pünktlich, klar.“
Boris´ Muskeln zitterten, ein pressender Druck war hinter seiner Stirn, ein Würgen im Hals. Nicht aufgeben, dachte er verbissen. Niemals aufgeben.
„Siebenundzwanzig, achtundzwanzig“, zählte Ali die Liegestütze laut mit, und rief,