Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers. Helge Hanerth
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Es braucht einen Plan B bei totalem Versagen oder bei realer Unmöglichkeit ein Ziel zu erreichen. Plan B ist als abgespecktes Minimalziel definiert. Der Plan B garantiert, dass ich immer erfolgreich bin. Es geht darum, die Richtung zu halten. Die Richtung ist ein angenäherter Weg zum Ziel.
Machen mich meine Lebenserfahrung und meine Kontrollmechanismen stark genug gegenüber Alkohol? Ich war nach diesen Überlegungen der Meinung, die Frage mit Ja beantworten zu können. Mit meiner Persönlichkeitsentwicklung traute ich mir das auch ein zweites Mal zu. Schon in der ersten Trinkphase hatte ich immer einen genauen Trinkplan, der stets eingehalten wurde. Auch damals hatte ich die Trinkphase selbstständig beendet. Während der Trinkphase hatte ich mich nie nach Alkoholkonsum zu einer Autofahrt entschieden. Wieso sollte das jetzt anders sein? Die Gutachter sahen das Risiko doch nur, weil sie von falschen Annahmen und statistischen Hochrechnungen ausgingen. Sie waren überfordert mit einer Prognose, deren Parameter sie nicht sämtlich erschließen konnten. Ihre Vorsicht war in Unwissenheit begründet. Ich und mein Leben waren doch gar nicht wirklich Gegenstand ihrer Untersuchungen gewesen. Ihre Beurteilungen waren wissenschaftlich nicht korrekt und gingen manchmal an der Wahrheit vorbei.
In meiner Studie sollte es keine externen statistischen Bezüge geben. In meiner Studie zählten nur Bezüge auf das Individuum in seinem wirklichen Verhalten. Meine Annahmen mussten besser sein, weil ich erkannte, was sie nur glauben wollten oder zu wissen glaubten. Meine einschlägigen Lebenserfahrungen berechtigten in ihrem Umfang zu den getroffenen Entscheidungen. Wer die nicht auch hat, den muss ich dringend vor einem solchen Experiment warnen. Es braucht den kompromisslosen Willen selbst am Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs die Entscheidung zur Umkehr zu treffen und auch zu exekutieren.
Ich nannte meine Studie Trinkprojekt. Den letzten Ausschlag gegen Bedenken zum Trinkprojekt gab eine Erinnerung an einen Mann, der in einer Fußgängerzone eine Spielzeugente auf Rädern hinter sich herzog. Damals löste sich meine Verwunderung, als ein Kommilitone erklärte, dass das Teil einer Therapie sei, die von einer bekannten psychologischen Praxis durchgeführt wurde. Die meisten Patienten seien Alkoholiker, die lernen sollten, angesichts der permanenten Gegenwart von Alkohol, damit umzugehen. Nichts anderes hatte ich im Trinkprojekt vor.
Vom Studiendesign her konnte es natürlich keine doppelblinde, randomisierte Studie werden. Aber es sollte eine Studie mit klarem Endpunkt und permanenter Verlaufskontrolle, sowie täglichen Evaluationen werden. Sämtliche Details waren schriftlich zu regeln, bis hin zu den Bedingungen für einen Abbruch und Sanktionen für Regelverletzungen. Ich wollte in meinem Trinkprojekt genauso vorgehen, wie in den pharmakologischen Studien, mit denen ich mich bei meiner Arbeit beschäftigte.
Dafür legte ich auf meinem Firmen-Laptop mit MS-Project das Trinkprojekt an. Mit dem Programm konnte ich über ein zeitliches Verlaufsdiagramm sämtliche Planungsschritte dokumentieren und überwachen. Alle Maßnahmen und Prozesse mussten zuvor beschrieben werden. Unter MS-Word begann ich dazu mit einer Präambel.
In der Studienpräambel nannte ich als Grund für die Untersuchung die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdbeurteilung, hinsichtlich meines Trinkverhaltens und den Verhaltensweisen unter Alkoholeinfluss. Mein Glaube falsch beurteilt worden zu sein nagte an mir. Das Problem war zu lösen, damit ich wenigstens meinen Frieden finden konnte, wenn ich schon nicht auf Gerechtigkeit hoffen durfte. Das Zeitfenster der Studie sollte sieben Trinkmonate betragen. Das war kürzer als der Zeitraum meiner ersten Trinkphase. Alle Details der Studie bedurften der Schriftform. Durch eine ausschließlich auf das Individuum bezogene Untersuchung, die frei von allgemeinen statistischen Prämissen war, sollte in erster Linie der Kontrollverlust beurteilt werden. Dafür wurden zwei Endpunkte als Studienziele festgesetzt:
Als primäres Studienziel legte ich die Abstinenz nach sieben Monaten fest. Stichtag war der Monatsultimo. Danach waren einen Monat lang auch geringe Mengen Alkohol nicht erlaubt. Totale Abstinenz in diesem Beobachtungszeitraum war Pflicht. Deswegen betrug die Gesamtdauer der Studie auch acht Monate. Sie bestand aus sieben Monaten Trinkphase und einem Monat Abstinenzphase. So blieb auch, wenn man die etwa fünfwöchige Trinkzeit der Gipsphase hinzurechnete, eine kürzere Trinkperiode als während der ersten Trinkphase.
Das zweite primäre Studienziel war Verkehrsfreiheit in der Trinkphase. Es war in dieser Phase absolut verboten ein Fahrzeug unter allen Umständen zu führen, sobald der erste Tropfen getrunken war.
Weiterhin gab es sekundäre Ziele. Diese Ziele dienten dazu, die Zielerreichung der primären Ziele sicherzustellen. Die Studie sollte helfen, meine Kontrolle weiter zuverstärken. Die Evaluation sollte Schwachstellen erkennen lassen.
Wichtigstes sekundäres Ziel waren die erlaubten Trinkmengen. Die maximale Tagesdosis, die nicht überschritten werden durfte waren 0,7 l Doppelkorn. Die Menge hatte ich noch nie zuvor erreicht. Ich entschied mich so, weil ich mich auch etwas herausfordern wollte, den Geltungsbereich meiner Widerstandskräfte auszuloten. Außerdem orientierte sich die 0,7 l Marke an ein Erlebnis aus meiner Kindheit.
Damals prahlte ein Straßenarbeiter, der vor unserer Haustür ein Telefonkabel verlegte damit, dass er beim Feiern alleine eine ganze Flasche Doppelkorn trinken konnte. Das schien mir schon als Kind eine viel zu große Menge zu sein. Nicht Mal auf Schützenfesten hatte ich gesehen, dass jemand so viel trank. Diese Schwelle wollte ich im Trinkprojekt auf keinen Fall erreichen, aber man hielt mich ja für zu blöd. Ich wollte es ihnen schon zeigen. Mein Unbehagen über diese riesige Menge führte zu zwei Einschränkungen.
Erstens, es durfte nicht eine ganze Flasche 0,7 l ausgetrunken werden. Ein Schluck musste symbolisch zurückbleiben. Wie groß der war, sollte ein Eichstrich markieren, der nüchtern anzubringen war. So konnte ich faktisch nicht Gleichziehen mit dem Arbeiter aus meinem Kindheitserlebnis. Der Rest musste verworfen werden, also ausgegossen in die Spüle oder Toilette, bevor die letzte Dosis getrunken wurde.
Zweitens musste nach Erreichen der Maximaldosis nach maximal zwei Wochen die Tagesdosis reduziert werden auf höchstens 0,6 l. Im vorletzten Studienmonat war die Trinkmenge in Stufen auf Null zum Monatsultimo zu reduzieren.
Der erste Alkoholkontakt eines Studientages durfte erst nach der Arbeit stattfinden. Das schloss auch offizielles Sekttrinken auf einem Empfang aus. An dieser Stelle fragte ich mich, ob das wirklich mit aufzuführen war. Trinken vor oder während der Arbeit war mir unmöglich. Ich brauchte doch das Tageswerk, um mir die emotionale Berechtigung zum Trinken abholen zu können. Und auf Empfängen bevorzugte ich ganz klar O-Saft. Aber dann fiel mir ein; Studien werden nicht nur gemacht, um neues Wissen zu finden, sondern vor allem auch in der Industrie, inklusive meiner Branche, um offizielle Bestätigung zu finden für sichere Annahmen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zutrafen. So schützte man sich auch gegen Vorwürfe der Einseitigkeit aus marktwirtschaftlichen Gründen. Und wollte ich nicht auch Bestätigung finden für Dinge, um die ich wusste und mich gleichzeitig den Vorwürfen als kranker Alkoholiker einseitig zu argumentieren, erwehren?
Die Tagesdosis war in drei Einzeldosen aufzuteilen. Ich suchte nämlich nie den Vollrausch, sondern eine gewisse Gemütlichkeit in der ich dem Fernsehprogramm noch folgen und die Hausarbeit erledigen konnte. Dabei brauchte ich die letzte Dosis zum sicheren Einschlafen. Nur durch langes Schlafen verschlief ich den Kater, den ich so fürchtete. Wenn ich mich wieder so verhielt wie in der ersten Trinkphase, dann konnte ich mich auch von den Koma-Trinkern unterscheiden.
Um auch während dieser Trinkphase Autofahren auszuschließen, galten die gleichen Regeln wie in der ersten Trinkphase. Mein Rennrad stellte ich hinter das Auto in die Garage. Es wäre also auch diesmal zu entfernen, bevor ich die Absicht zu einer Alkoholfahrt umsetzen könnte. Außerdem legte ich den Autoschlüssel auf dem kleinen buddhistischen Altar meiner Frau. So sollte es mir schwer fallen