Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers. Helge Hanerth

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Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers - Helge Hanerth

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Suche nach einem Job in China gestaltete sich aufwendig. Direkte Jobs gab es nur mit einschlägiger Auslandserfahrung. Viele Unternehmen meiner Branche erwarteten einen ganz bestimmten Karriereverlauf im Unternehmen, der erst zum Auslandseinsatz qualifizierte. Die wollten von mir erst mal eine Performance in ihren Abteilungen im Inland sehen, bevor sie eine Verwendung im Ausland erwägen wollten.

      Meine Bewerbungen bei Konkurrenten auf eine Position, die der aktuellen vergleichbar war, waren erfolgreicher. Nach der zweiten Zusage brach ich diese Schiene ab. Jetzt kannte ich meinen Marktwert. Es war beruhigend zu wissen, dass es Alternativen gab zu meinem jetzigen Arbeitgeber. Meinen Chinatraum strickte ich konsequent weiter, weil auch meine Frau am Telefon durchblicken ließ, dass ihr Job der Beginn einer postnatalen Karriere sein konnte. Offensichtlich war man mit ihren Leistungen zu frieden.

      Nach einem sehr intensiven Schwimmtraining fragte ich mich, warum sich meine Bauchmuskulatur immer noch versteckte. Vor zwanzig Jahren war das <Six-Pack> mein ständiger Begleiter. Der Grund lag natürlich in den vielen Geschäftsessen und der Verpflegung auf Tagungen. Ich wollte das <Six-Pack> noch mal sehen. Also entschied ich mich für eine Diät. Diätische Maßnahmen wirken sich im Berufsleben sehr leicht kontraproduktiv aus. Lecker essen ist der Kit für geschäftliche Beziehungen und für den guten Draht zum Chef, wenn der wie meiner, mindestens zwanzig Kilogramm Übergewicht hat.

      Ich begann also im privaten Bereich. Ich entschied, dass Essen nur noch erlaubt war, wenn es ein klares Hungergefühl gab. Appetit war kein Grund zu essen. Interessanterweise kam kein Hunger. Also ging ich am ersten Tag meiner Diät ohne Essen zu Bett. Am nächsten Morgen war immer noch kein Hunger zu spüren. Als der Hunger dann mittags mit Macht anklopfte, hatte ich keine Zeit. Ich hatte einem Kollegen versprochen einen Vorgang schnell zu bearbeiten. Erst am späten Nachmittag bot sich wieder die Gelegenheit, als sich die Türen nach einer Besprechung öffneten. Als ich die Berge von Kuchen sah, entschied ich mich trotz des mittlerweile gravierenden Hungers, die Kalorienbomben links liegen zu lassen. Ich fand mich toll, der süßen Versuchung nach Sahnetörtchen widerstanden zu haben. Gestärkt von diesem Gefühl, wurde der Hunger bedeutungslos. Ich entschied mich deshalb die Null Diät fortzusetzen. Erlaubt waren nur noch Getränke in tagesüblicher Dosis. Vier Tage zog ich die Diät so durch. Ich war fasziniert von dem permanenten Hunger, der trotzdem nicht zu seinem Recht kam. Es brauchte schon einen wirklichen Vernunftsgrund mit meiner Radikalität zu brechen. Ich tat es nur unter der neuen Bedingung, eine vollwertige Mahlzeit einzunehmen.

      Letztlich führte ich die Null Diät damit eingeschränkt fort, denn biologische Vollwertkost war umständlich zu besorgen. Oft genug tat ich es einfach nicht und bekam meiner Regel zu folge nichts zu essen. Bei dieser Ernährungsweise blieb ich. Das Essen schmeckte immer besser. Seltenes Essen steigert die Lust auf das Essen und intensiviert das Geschmackserlebnis. Mein Hunger zeigte sich als guter Geschmacks- verstärker. Essensentzug, so schien es, sensibilisierte meine Geschmacksknospen.

      Nur bei einem Pizzaessen im Schwimmverein aß ich mehr als jeder andere. Das war aber okay. Ich konnte es mir doch wieder erlauben. Da spürte ich, wie meine Disziplin wieder belohnt wurde, weil erst die praktizierte Disziplin die Ausnahme erlaubte. Jetzt hatte ich noch einen Grund streng zu sein bei meiner Nahrungsaufnahme. Ich änderte meine Diät so weit ab, dass ich ein ungesüßtes Müslifrühstück mit Banane und Frischmilch einführte. Im Tagesverlauf waren dann nur noch Geschäftsessen und Obst erlaubt. Der Tagungskuchen blieb dauerhaft gestrichen. So schien mir die Diät gesundheitlich ausgewogener. Eine innere Stimme forderte radikalere Maßnahmen. Die Stimme sagte: ‚Iss nicht wenn du Hunger hast. ‘ Ich musste ihr einen Verweis erteilen. Nachgeben war nicht zielführend.

      Ich empfand die Diät als ein gutes Alltagsbeispiel dafür, wie man entdecken kann, dass es sich manchmal lohnt, Bedürfnissen wie Hunger zu widersetzen. Es stärkt den Willen zum <Triumph> über das Fleisch. Nur darf der Genuss der Macht über den Hunger nicht in ein neues Extrem umschlagen. Magersucht (Amorexia nervosa) ist keine Kontrolle. Sie ist höchstens eine aus dem Ruder gelaufene Kontrolle. Man muss sich bei einer Diät genauso wie bei jeder Angelegenheit, die mehr als eine Alternative kennt, die ganze Zeit im Klaren bleiben, warum man tut was man da tut.

      Der magersüchtige Christian Frommert (Vgl. Frommert, Christian: „Dann iss halt was“, Mosaik Verlag 2013) schreibt in seinem Buch, dass er beim Wiegen manchmal Gefühle hatte, die einem Orgasmus vergleichbar waren. Das Gefühl fand ich leicht nachvollziehbar. Ich habe es ähnlich empfunden bei meiner Diät. Ich wollte beim täglichen Wiegeritual unbedingt die sieben am Anfang stehen sehen, auch wenn ich schon vorher mit 84 kg im grünen Bereich angekommen war. Diät wird geil, wenn es zum Wiegen kommt. Als ich die achtzig Kilogramm Marke unterbiete waren die Gefühle überwältigend. Als die sieben in der Anzeige der Waage sichtbar wurde, war das ein Höhepunkt, der den ganzen Tag ausfüllte. Schon der Tag davor ließ eine freudige Anspannung entstehen. Die sieben an erster Stelle auf der Gewichtsanzeige zu sehen, war zwar kein Weltrekord, aber in jedem Fall meine persönliche <Bestzeit> auf der Waage. Solche Erlebnisse schätzte ich schon in meiner pubertären Zeit im Leistungskader als überwältigender ein als Sex.

      Ich will dringend vor Magersucht warnen. Ich will aber auch deutlich machen, wie süß das Gefühl der Herrschaft über den Körper sein kann. Wer diese Fähigkeit dosiert nutzt, hat eine starke Waffe gegen jedes Craving. Erst mit einer Magersucht erhebt sich in krankhafter Weise der Geist über den Körper. Wir sind dem körperlichen Craving nicht ausgeliefert, wenn wir um die Kraft des Willens wissen. Was bei einer Amorexia nervosa pathologisch wird, kann dosiert eingesetzt andern Orts substanzabhängigen Süchtigen helfen. Das ist wie mit einem Schlangengift, das zum Antiserum wird. Ein ordentlich trainierter Geist kann die gleiche Kraft entwickeln wie vegetative Triebe. Das ist auch ein wichtiger Nutzen aus meinem Leistungssport. Wenn man das sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen hat, wirkt das ein lebenslang.

      Diese praktische Erfahrung ließ mich nach weiteren Wegen gegen störende Versuchungen suchen. Was machte ich als Sportler um nicht aufzugeben? Nie gebe ich da bei erster Erschöpfung auf. Ich versuche auch gegen Widerstände meine Leistung zu steigern. Ich genieße das Gefühl Chef im eigenen Körper zu sein. Ich sage wo es langgeht. Da werde ich schon mal zum <Schleifer> in mir. Ich bin überzeugt von einem positiven Masochismus als einer Kunst sich im Willen um Zielerreichung selbst in den Allerwertesten zu treten.

      Ähnlich war es auch als katholisches Kind, als ich mit Beginn der Fastenzeit anfing keine Süßigkeiten zu essen und mit dem eingesparten Geld ein Sparziel entwickelte, das ich immer weiter ausdehnte. Es tat weh mir materielle Wünsche zu versagen. Der Druck nachzugeben war aber nie so groß, wie die Freude über meinen Kontostand, denn der war Indikator für meine Willensstärke und für die Dinge, die ich mir jetzt leisten konnte.

      Mit meiner Diät war ich zu frieden. Sie ließ sich gut steuern und nach anfänglicher, schneller Gewichtsreduktion hatte sich die Gewichtsreduktion auf 500-800 g pro Woche eingependelt. Die große Überraschung gleich am Anfang war, wie lange es dauerte bis tatsächlich der erste echte Hunger kam. Normalerweise essen wir bevor wir wirklich Hunger bekommen. Normalerweise essen wir, weil die nächste offizielle Essenszeit ansteht. Mich treibt nie blanker Hunger zum Mittagstisch, sondern eine soziale Pflicht. Die ist besonders wichtig gegenüber den Kollegen am Arbeitsplatz. Das gemeinsame Mittagessen mit den Kollegen oder auch mit Kunden festigt die persönlichen Beziehungen. Viel zu oft essen wir aus Gewohnheit und zur Pflege unserer sozialen Beziehungen. Das wertet Essen in seiner primären Bedeutung ab. Das Bewusstsein half bei der Umstellung. Es ging so schnell. Hatte sich mein Körper bereits über Nacht umgestellt? Egal, jedenfalls gefiel mir dieses Gefühl, das weder Hunger noch Sattheit kannte. Es lag so unbestimmt dazwischen, war weder Fisch noch Fleisch. Das Gefühl war weich austariert. Ausschläge in die eine oder andere Richtung hatten eine geringe Wirkung. Ich merkte, dass ich dieses Gefühl somit leicht steuern konnte. Mein Ehrgeiz war geweckt. Ich wollte diese Kontrolle nicht wieder abgeben, sondern radikal ausnutzen für mein Ziel. Den Sieg über den Hunger würde ich mir nicht mehr nehmen lassen. Tatsächlich setzte ich meine Diät nicht nur konsequent fort; ich reduzierte weiter die geplanten Essensrationen.

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