Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers. Helge Hanerth
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Am nächsten Morgen begann ich mit Hanteltraining. Dann schaute ich im Intranet, was sich so für die Firma erledigen ließ. Ich arbeitete bis halbzwei und schob dann eine Pizza in den Ofen. Danach war der Tag wieder gelaufen. Sollte ich jetzt wieder fernsehen? Nein, bitte nicht. Mir fiel ein, dass ich mein Geburtstagsgeschenk noch nicht gelesen hatte. John Gribbins <Auf der Suche nach Schrödingers Katze> (Gribbin, John: „Auf der Suche nach Schrödingers Katze“, Piper Verlag 2010) lag noch in gelöstes, lose eingeschlagenes Geschenkpapier im Regal. Zwei Stunden lang fühlte ich mich gut unterhalten. Dann brauchte ich eine Abwechslung. Nach der Realität der Quantenphysik, versuchte ich es dann doch wieder mit der virtuellen Realität des Fernsehers. Zehn Minuten später habe ich ausgeschaltet. Das Programm war nicht zu ertragen, <no food for thought> oder wie ich auf Deutsch auch gerne behaupte: <Nix fürs Hirn>. Auf der Suche nach Alternativen entschied ich mich für eine Grundreinigung des Bodens. Das war immerhin eine sinnvolle Tätigkeit. Mit einer Bürste schrubbte ich jede Fliese einzeln. Während ich Gelassenheit in meiner monotonen Arbeit nach der Art eines Sisiphos fand (Vgl. Camus, Albert und Wroblewsky, Vincent von: „Der Mythos des Sisyphos“, Rowohlt Verlag 2000), kamen mir andere Gedanken. Mir wurde klar, dass sechs Wochen sehr lang werden können, wenn man keine Aufgabe hat.
Was könnte ich gegen Monotonie und Langeweile in so einem großen Zeitfenster tun? Spontan fiel mir trinken ein. Ich war dem Gedanken nicht wirklich abgeneigt. Wieso auch? Es wäre ein Notfall. Der zeitliche Rahmen wäre begrenzt. Meine Frau dürfte es auch nicht verletzen, denn die war ja gar nicht da. Sorgen um eine mögliche Alkoholfahrt machte ich mir auch nicht. Zum einen mag ich nicht betrunken autofahren und zum andern kann ich mit meinen eingegipsten Beinen nicht autofahren und außerdem hatte Pascal mein Auto. Er war auch für meine Versorgung mit Lebensmitteln zuständig. Ich hatte seine Handynummer. Ein Anruf genügte und ich bekam, was immer ich wollte, eine Autofahrt mit Chauffeur inklusive.
Anrufen mochte ich ihn dann doch noch nicht. So akut war es nicht. Noch hoffte ich auf eine besondere Idee. Die kam aber nicht. So entschied ich mich für Krafttraining, putzen und Alkohol als tägliche Freizeitroutine an den Nachmittagen. Die Vormittage blieben reserviert für freiwillige Arbeiten am Rechner für meine Firma. Ich entschied die nächste Lebensmittelbestellung um Korn zu ergänzen. Bis dahin setzte ich die Grundreinigung der Fliesen für die gesamte Etage fort. Morgen würde ich mich dann noch die Treppe hocharbeiten in die nächste Etage. Bis dahin hatte ich auch das Physikbuch durchgelesen.
Als Pascal mit dem Einkauf kam, war er keineswegs überrascht, über meinen weiteren Wunsch auf der Einkaufsliste.
„Gibt es einen besseren Grund als den hier?“, fragte er ohne eine Antwort zu erwarten und sah auf meine Beine.
Von nun an sahen die Tage wie folgt aus:
6:00 Uhr Aufstehen, dann Hanteltraining
7:15 Uhr Frühstück mit Tageszeitung (ich las sonst nie Zeitungen,
keine Zeit)
8:00 Uhr Büroarbeit
13:00 Uhr Mittagessen
14:00 Uhr Alkohol, YouTube und Video
20:00 Uhr Bettruhe
Gegen 19:30 Uhr nahm ich meinen letzten Drink und rollte ins Bad. Ich wusste, dass ich dann bald einschlafen würde. Zehn Stunden Schlaf stellten sicher, dass ich morgens fit war. Dann platzte ich wieder vor Energie. Das Hanteltraining kam mir dann gerade recht.
Ich liebe solche Ordnung. Sie schafft Klarheit. Es gibt dann keinen diskussionsfähigen Grund für Änderungen. Ich diskutiere keine Ausflüchte zu einer zuvor festgelegten, legitimen Regel, die ich mit klarem Verstand vernünftiger Weise festgelegt habe. So etwas würde mich süchtig machen. Hier gibt es also etwas zu beweisen. Ernsthafte Einwände sind aufzunehmen und später zu verhandeln. Von diesem Prinzip bin ich so überzeugt, weil es im Leistungssport so gut funktioniert hat.
Die Kombination von Trinken und Sport ist für viele Menschen ungewöhnlich. Tatsächlich kannte ich persönlich auch keinen zweiten Alkoholiker, der das machte. Ganz überwiegend neigen Alkoholiker zur Trägheit. Sie sind passive Genießer. Für mich war aber der Sport immer schon da gewesen. Es wäre merkwürdig, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre. Gerade angesichts meiner totalen Freizeit war es so einfach, mal eben eine Stunde Training einzuplanen. Trinken konnte ich theoretisch dann noch den ganzen Tag. Ohne Sport hätte ich mehr trinken müssen. Denn Sport wie Alkohol binden Energien und stellen ruhig. Sport macht das allerdings auf eine angenehmere Weise. Alkohol hinterlässt nur Kater, aber Sport hinterlässt Fitness und dass Gefühl Berge versetzt zuhaben.
Immerhin fand ich heraus, dass es doch noch andere Alkoholiker gab, die ihr Trinkverhalten mit Sport kombinieren konnten. Das prominenteste Beispiel ist der Keyboarder und Texter Martin Gore von der britischen Electro-Band Depeche Mode. In mehreren Interviews hat er betont, dass er während seiner Trinkphase regelmäßig joggen ging.
Ich war auch glücklich, dass ich soviel Büroarbeit für die Firma erledigen konnte. Das füllte den Tag schon Mal zur Hälfte und gab ihm Sinn. Ich musste erst etwas leisten, um so meine Lebensberechtigung abzuholen. Das ist mir ein fundamentales Prinzip. Wenn ich das nicht tue, dann treibt es mir Schauer über den Rücken. Ohne Tagesleistung werde ich unruhig. Freizeit muss ich mir verdienen. Das ist meine Voraussetzung für Entspannung. Da es ein Bauchgefühl ist, kann ich es nicht einfach umgehen. Nichtstun überfordert mich. Es machte mich nervös und hippelig, so ganz ohne richtige Aufgaben zu sein und das für Wochen. Ich hätte mich so nutzlos, ja geradezu schuldig gefühlt. So hätte ich mich nicht aushalten können. Ich verstand mit einem Male, warum meine Eltern meinen kindlichen Aktivitätsdrang als Symptom für ein Hyperaktivitätssyndrom sahen.
Ich begann mit 0,2 l Korn, wenn ich den Ofen für die Pizza vorheizte. Eine zweite Dosis von 0,2 l trank ich kurz vor dem Schlafen gehen. Das war meine <Schlaftablette>. Am Ende der sechs Wochen, lag ich bei einer Tagesdosis von 0,5 l Doppelkorn.
Über meine Rauscherlebnisse lohnt es nicht zu berichten. Es passierte nicht viel. Ich war nie sehr <breit>, denn sonst hätte ich mich nicht ausreichend konzentrieren können, um leichten Tätigkeiten nachzugehen. Selbst Hausarbeit braucht etwas Hirn, wenn man sie gründlich macht, denn natürlich kontrollierte ich am nächsten Tag. Das musste so sein. Ich hatte meinen Tagesplan. Der wurde auch jetzt ganz automatisch umgesetzt. Kontrolle gibt mir Führung und Sicherheit.
Die Mittelmäßigkeit des Fernsehprogramms wurde immerhin akzeptabel. Das war der größte Erfolg vom Alkohol. Manchmal schienen mir Filme immerhin so interessant zu sein, dass ich sie mir rauschfrei nochmals anschaute. Oft bestätigte sich mein Interesse dann nicht mehr. Im Rausch erlebte ich wenig, was nüchtern betrachtet, immer noch die gleiche Faszination hatte. Alkohol holte mich nur runter. Es machte mich genügsam. Alkohol schlug die Zeit tot, die ich anders nicht zu nutzen wusste. Das machte Alkohol aber sehr gut. Schon in meiner ersten Trinkphase habe ich im Rausch nie bedauert, etwas anderes zu verpassen. Das Bedauern kommt immer erst im Nachhinein.
Alkohol macht lustig, aber es hat nicht das mitreißende Potenzial von Sport. Beim Denken regt Alkohol am Anfang ein wenig die Fantasie an und fordert auf, neue Fragen zustellen. Dann aber verengt es den Blick und man kann sich nicht in Details vertiefen. Es bleibt oberflächlich. Alkohol läßt keine Antworten finden oder gar Taten folgen. Trägheit und Müdigkeit folgen schnell, wo Sport mich fließen lässt. Man schafft letztlich nichts mit Alkohol. Aber genau