Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers. Helge Hanerth
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers - Helge Hanerth страница 9
Endlich kam der wochenlang ersehnte Tag. Es war eine Erlösung gipsfrei zu sein. Aber auch ohne Gips war die alte Beweglichkeit nicht gleich wieder da. Ohne Krücken ging es noch nicht. Die Beinmuskulatur war zu sehr erschlafft. Da die Muskulatur den Knochen stützt und schützt, nahm ich die Warnungen des Arztes ernst. Noch zwei Tage benutzte ich zu Hause mein Skateboard.
Am zweiten gipsfreien Tag fuhr ich zum Schwimmbad. Es war herrlich den ganzen Körper zu bewegen. Ich fühlte mich frei. Das ganze Becken hatte ich für mich, es war auch erst sechs Uhr morgens. Nur zwei Bahnen waren für eine Schule abgetrennt, deren Schüler ich nie sah. Schwimmen schien mir die perfekte Reha-Maßnahme zu sein. Die Hauptbelastung beim Kraulen liegt bei den Armen. Die Beine konnte ich dosiert zur Unterstützung heranziehen.
Genauso befreiend war mein Arbeitsantritt. Ich musste mich etwas bremsen, um die Kollegen mit meiner Dynamik nicht zu nerven. Die hatten mich nicht vermisst. Ein Kollege hatte wegen des Betriebsübergangs, der unserer Abteilung bevorstand, bereits den Job gewechselt. Es gab nicht mehr viel zu tun. All die Analysen, die ich in sechs Wochen angefertigt hatte, blieben ohne Bedeutung. Auf keiner Besprechung konnte ich meine Charts präsentieren. Nur mein Kongress-Projekt hatte weiterhin Priorität, aber das stand weitgehend schon. Eine gewisse Lethargie in der Belegschaft übernahm ich. Deswegen änderte sich meine Tagesplanung ein wenig. Ich fing nun erst nach Feierabend an zu trinken an und ersetzte das Frühstück durch Nordic Walking. Mein neuer Tagesrhythmus wurde bestimmt durch die ungewöhnlichen, manchmal surrealen Arbeitsbedingungen zum Ende meiner langen Firmenzugehörigkeit.
Ich fühlte mich, als hätte ich meinen Arbeitsbereich ganz verloren und würde nur noch Arbeit vortäuschen. Ich fand meine Arbeit immer weniger nützlich. In der Folge fand ich mich selbst dann auch etwas nutzlos. Nach etwa einer Woche wurde mir erst bewusst, dass ich meine Trinkgewohnheiten nicht einfach so weiterlaufen lassen durfte. Meine Tagesdosis lag jetzt am Wochenende bei 0,6 l Doppelkorn. Morgens schlief ich länger. Frühsport gab es nicht mehr. Es war mir plötzlich zu mühsam geworden. Auch nach einem Rausch blieb eine gewisse Trägheit zurück, kombiniert mit einer allgemeinen Lustlosigkeit. Es brauchte neuerdings meine bewusste Entscheidung für eine Aktion. Mich drängte es nicht mehr aus dem Bauch heraus zu bestimmten Unternehmungen. Meist ging ich nur am Wochenende eine Runde joggen.
Ich beschloss, mein Verhalten zu überdenken und schon mal die Trinkmenge etwas zurückzufahren. Darüber nachgedacht habe ich beim Nordic Walking, weil das im geistigen Fließen eines monotonen Tuns so gut geht.
Was sprach dagegen die Trinkphase fortzusetzen? Wieso nicht weiterhin etwas konsequenter Sport treiben und danach trinken, so lange sich im Job nichts tat und meine Familie abwesend war? Ich hatte mich an mein Feierabendsprogramm mit Video und You Tube gewöhnt. Das System war gut eingeführt. Es füllte angenehm die Abende. Wenn ich abends früh zu Bett ging, kam ich immer noch auf zehn Stunden Schlaf. Das war mir wichtig, denn ich war überzeugt, dass mich mein langer tiefer Schlaf vor Kater schützte. Natürlich musste die Aktion spätestens dann auslaufen, wenn meine Frau mit den Kindern zurückkam. Mir schien das ein überschaubarer und deswegen akzeptabler Rahmen zu sein. Ich beschloss also weiterzumachen.
Allerdings beschloss ich auch, einen ganz klaren Rahmen zu schaffen für das tägliche Trinken. Ich wollte mir beweisen, wenn ich weitertrank, dass ich alles im Griff hatte. Ich fühlte mich noch immer verletzt, dass wegen des Vorfalls vor Jahren Staatsanwalt, Richter und Gutachter mir zugetraut hatten, mich betrunken in ein Auto zu setzen. Nie hatte ich das getan. Das war eine Lüge, eine Verleumdung durch eine fachliche Fehlleistung. Dieses Vergehen wog schwer.
Kontrolle ist mir das Wichtigste. Kontrolle hatte meinem hyperaktiven Chaos als Kind Ordnung gegeben. Kontrolle machte erst meine Lebensleistung möglich. Kontrolle ging bei mir in der Pubertät so weit, dass ich dem Craving von Verliebtsein widerstand. Liebe machte mir Angst. Ich mied jede halbwegs attraktive Frau. Manchmal flüchtete ich geradezu. Die Angst vor Kontrollverlust war so groß, dass ich erst mit Ende Zwanzig einen Weg fand in vielen kleinen Schritten das Herz einer Frau zu erreichen, ohne das es mich umhaute. Daneben bewegte mich damals aber auch die ganze Zeit die Frage: ‚Was ist, wenn sich der Hormonsturm legt? Will ich dann immer noch die gleiche Frau?‘ Dahinter steckten ganz klar Bedenken, dass eine hormonelle Bewusstseinstrübung vernünftige Entscheidungen blockiert und damit Kontrollmechanismen aushebelt.
Ich war immer noch beleidigt, dass mir unterstellt worden war, ich würde mein Alkoholproblem verharmlosen. Unfähigkeit meinen Konsum und mein Verhalten unter Alkoholeinfluss zu kontrollieren, war ein weiterer Vorwurf, der sich allein auf statistische Ableitungen bezog ohne konkrete Beweise.
Langjähriger Missbrauch war mir ebenfalls vorgeworfen worden. Das war eine Annahme, die völlig unmöglich war und sich mit meinen Lebensdaten überhaupt nicht abgleichen ließ. So viele Ungereimtheiten, Unterstellungen und Lügen enthielten die Gutachten, dass ich sie nicht als seriöse Grundlage und Maßstab für den Umgang mit Alkohol sehen konnte. Im absoluten Glauben, dass große Leidenschaft für Alkohol und Trinkdruck bestimmend sind, hatten die Gutachter andere Gründe erst gar nicht in Betracht gezogen. Riskierte nicht diese Einseitigkeit ein Versagen ihrer Maßnahmen in anders gelagerten Fällen wie dem meinen? Ich war doch gar nicht ernst genommen worden.
Trotz der rationalen Feststellung blieb die emotionale Verletzung. Die wog besonders schwer, weil die gutachterlichen Feststellungen das Ergebnis einer fachlichen Expertise sein sollten. Mit allgemeinen Annahmen und statistischen Ableitungen hatte man es sich zu einfach gemacht. Die Lebensrealität des Individuums war mit Füßen getreten worden. Selbst die Begründung für eine neue Fahrtauglichkeit war bei den Haaren herbeigezogen. Wenn ich jetzt ganz bewusst alles wiederholte, konnte ich mir nochmal beweisen, dass die Anschuldigungen unbegründet waren und damit die misshandelte Seele therapieren. Auch dieses Mal würde die Trinkdauer unter einem Jahr bleiben. Ich nahm mir vor, dabei unbedingt unter der Dauer der ersten und einzigen bisherigen Trinkphase zu bleiben. Ich wollte ganz sicher sein, das mir das auch gelang.
Ich wollte Beweiskraft auf die Richter und Gutachter so gerne schwörten, ohne sie manchmal zu haben. Deswegen entschied ich mich zu einer Studie. Ich wollte endlich ernstgenommen werden. Ich ertrug es nicht, dass man meine Einwände pauschal als krankhaften Widerstand ausgelegt hatte und grundsätzlich nicht zur Prüfung bereit war. An meiner Ohnmacht gegenüber dem Absolutismus der Gutachter, speziell der zweiten MPU, hatte ich immer noch zu schlucken. Seine Missachtung meiner Realität zu Gunsten seiner scheinbar so abgeklärten Erfahrung, hatte ich noch nicht verwunden. Die Schwere seines Vergehens sah ich darin, dass er wissenschaftlich nicht korrekt gearbeitet hatte. Relative Wahrheiten benutzte er wie deduktive Beweise. Er hatte seine Erfahrung zum empirischen Beweis erhoben. Scheinkorrelationen produzierte er wo er sie brauchte. Gutachter suchen nicht nach Wahrheit. Sie gehen mit einem vorbereiteten Eindruck in eine Begutachtung. Der Klient, der die Expertise bestätigt, gilt als offen, therapietauglich und schuldbewusst. Er bekommt eine Chance auf den Führerschein. Wer kritische Fragen stellt, oder gar die Qualität wissenschaftlicher Studien zu prognostizistischen Untersuchungen wie der MPU anspricht, motiviert leider nicht den Gutachter an dessen wissenschaftlicher Ehre gepackt, zu einer gründlichen Exploration. Kritik wurde immer als Angriff oder Verweigerungstaktik abgetan. Die Reaktionen waren immer emotional. Sachlicher Diskurs war, ich vermute um der Autorität willen, ausgeschlossen.
Alle Studien über prognostizistische Untersuchungen belegen deren geringe Qualität. Wenn man die Zukunft nicht in allen Details kennt, kann man keine sichere Prognose geben. Das klingt auch ohne Untersuchung schon logisch. Wenn dann auch der Ist-Zustand nur teilweise abgefragt wird und die erhobenen Daten intuitiv interpretiert werden, sind je nach Erfahrung des Spezialisten unterschiedliche Ergebnisse möglich. Weiterhin wurden wesentliche Lebensfakten ignoriert, wenn sie nicht in ein statistisch geläufiges Bild passten. Viele von mir angesprochene Fakten wurden nicht mal ins Protokoll aufgenommen. Die Blicke, die solches Verhalten begleiteten hatte ich noch nicht vergessen. Das musste zu einem unbefriedigenden