Maßstäbe. Helmut Lauschke
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Helmut Lauschke
Maßstäbe
Elf Geschichten der Besonderheit
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Inhaltsverzeichnis
Elf Geschichten der Besonderheit
Komplikation, Studium und das Leben
Chinesischer Kräutertee, das Brahms’sche Klavierkonzert und Olga Zerkow
Der Französisch-Unterricht und andere Erfahrungen am Augusta-Gymnasium für Mädchen
Mit Simon in einer kleinen Wohnung am Rande der Stadt und die Geschichte der Schülerin Ünett
Aus der Vorlesung in der Psychiatrie
Im Pendelschlag von Schuld und Entschulden
Elf Geschichten der Besonderheit
Der Weiße beschreibt den Schwarzen als Nicht-Weißen und verweist auf das, was er nicht ist, anstatt auf das, was er ist. [Nelson Mandela]
Die schwarz-weiße Geschichte
Der Rest der Morgenbesprechung bringt die altbekannten Themen, die bereits von allen Seiten beleuchtet wurden. Das erste Problem des ekelhaften Uringestanks über dem Vorplatz des Hospitals wird von der hageren weißen Matrone vorgetragen. Dabei steht ihr die andere, kurzgewachsene schwarze Matrone bei, die entsprechende Ekelgrimassen zieht. Vortrag der einen und Pantomime der anderen Matrone lösen Nachdenklichkeit und ein Schmunzeln aus. Alle klatschen der Pantomime ihren Beifall. Es kommt zum Gelächter, als ein Kollege sagt: “Ein Pissoir von solchem Gestank kann doch nur eines sein, das die Veteranen zurückgelassen haben.” Das Gelächter wird zum Lachen, als Dr. van der Merwe sagt: “Das hält doch keine Sau aus, die gut erzogen ist.” Der Superintendent versucht, das Thema zu beenden. Er sagt, dass der Wasserschlauch von der nötigen Länge fehle, um den Vorplatz urinfrei zu spritzen. Die Order für den Schlauch hätte er vor Monaten unterschrieben und durch den Fahrer dem zuständigen Mann in Ondangwa bringen lassen, der darauf nicht reagiert habe. Dr. van der Merwe bemerkt, dass die Leute in der Verwaltung genügend Toiletten mit guter Spülung haben und noch beim Rätselraten seien.
Das zweite altbekannte Thema wird nach Wiederkäuerart von Dr. Hutman vorgetragen, der in seiner stets gebügelten Leutnantsuniform sich wegen seiner nicht zu bremsenden Intriganz den Orden eines “der Leutnant des Teufels” tagtäglich neu verdient und durch sein widerwärtiges, keiltreibendes Verhalten Ursache der gespannten Arbeitsatmosphäre ist. Dieser junge, vom System der Apartheid verdorbene Doktor und mit spitzen Ellenbogen reinstoßende Karrierist nennt die miserablen Zustände in den chirurgischen Sälen, wo die Schwestern die Anordnungen angeblich nicht befolgen, nicht zur rechten Zeit die Verbände wechseln und die Medikamente austeilen mit der Folge, dass die Wundinfektionen auf dem Vormarsch seien, die leergelaufenen Infusionsbeutel an den Tropfständern herumhängen und die Venenzugänge durch Thromben verstopfen. Dr. Hutman erwähnt die verschmierten und gebrochenen Fensterscheiben, die verstopften und stinkenden Toiletten, die angebrochenen Toilettenschüsseln, die ramponierten, nicht schließbaren Saaltüren mit den fehlenden Schlössern und Klinken, die verschmutzten Waschräume mit den tropfenden und klemmenden Wasserhähnen, die alten aufgerissenen und fleckigen Schaumgummimatratzen mit dem Uringeruch der vielen Jahre und die permanente Überbelegung der chirurgischen Säle unter den geschilderten ‘beschissenen’ Zuständen. Dieser Doktor zeichnete das Bild eines runtergekommenen Hospitals, ohne sich deshalb in die Mitverantwortung zu nehmen, mitzuhelfen, den unerträglichen Zustand zu beseitigen, beziehungsweise zu mildern und erträglicher zu machen. Ein solches ‘Krankenhaus’ wäre in Europa unmöglich, doch in Afrika ist so ein Krankenhaus dringendst erforderlich, das in einem Kriegsgebiet liegt, in dem die Schlussphase des Kampfes zur Befreiung der Menschen von der weißen Apartheid stattfindet und die Freiheits- und anderen Granaten in nächster Nähe einschlagen, dass die Böden und Wände zittern und reißen und Ärzte und Schwestern dennoch ihre Arbeit am Patienten fortsetzen.
Dr. Witthuhn räumt ein, dass diese Missstände eine lange Vorgeschichte haben und nicht von heute auf morgen behoben werden können. Die hagere weiße Hauptmatrone versichert, dass die Schwestern trotz der permanenten Überlastung ihr Bestes tun, um den
vielen und übergebührlichen Anforderungen gerecht zu werden. Die Ärzte sollen aber zur Kenntnis nehmen, dass die Aufsicht und Pflege der Patienten unter diesen Umständen und Bedingungen im Kriegsgebiet, die auch für sie zum Himmel schreien, eine physisch wie psychisch abnorme Herausforderung und schwere Belastung darstellen. Jeder, ob Arzt oder Schwester, muss den Beitrag leisten, der über die Grenze der bloßen Routine hinausgeht. Die Matrone sagt es mit sorgengefaltetem Gesicht: “Behalten Sie ständig im Auge, was sie draußen sehen, wenn Sie die Massen hilfesuchender Menschen, die zum Hospital kommen oder gefahren werden, schon am frühen Morgen auf dem Vorplatz antreffen. Wir alle haben uns bis an die Grenze des physisch Möglichen zu fordern, um diesen Menschen zu helfen. Und am wirkungsvollsten können wir es tun, wenn wir zusammenstehen, uns nicht auseinander dividieren lassen, wenn wir den Teamgeist in uns aufnehmen und uns gegenseitig unterstützen. Doch um das zu können, was von uns in elementarer Weise gefordert wird, müssen wir uns auch verstehen. Ich meine, das gegenseitige Verständnis darf dort nicht aufhören, wo die Sprache der Lippen sich von einer anderen unterscheidet.
Diese Sprachgrenzen müssen wir mit dem tieferen Verständnis, das in jedem von uns ist, durchstoßen, dann sind die Voraussetzungen gegeben, ein wirkliches und starkes Team zu bilden.” Das war die Ansprache der Matrone, die durchblickte und das Integral zur Hilfe am Menschen formulierte. Ihre Rede hatte Gewicht, die zum Denken über das Wesentliche herausfordert und motiviert. Bedrückendes Schweigen liegt im Raum. Alle sitzen mit gesenkten Gesichtern da. Nur der Superintendent sieht mit seinen geröteten Skleren der Matrone ins Gesicht. Auch er ist von ihren Worten