Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter. Stephan Waldscheidt

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Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter - Stephan Waldscheidt

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wo Muränen lauern und Robben Pinguine jagen, um dann selbst von einem Orca verspeist zu werden, ein Ozean, in dem sich die intelligenten Kraken ebenso wohlfühlen wie die tumben Seegurken und die gruseligen Anglerfische der Tiefsee, ein Ozean mit Schiffswracks und Plastikmüll, auf dem riesige Tanker fahren und Seeleute schuften, wo Schnorchler ihren Sommer genießen und planschende Kinder ihre ersten Abenteuer erleben.

      Stellen Sie sich vor, der Ozean wäre Ihr Roman.

      Die Stimme? Sie ist das Wasser. Medium. Lebensgrundlage. Segen und auch Fluch. Überall und doch nicht fassbar. Mal in der Sonne glitzernd, mal jedes Licht verschluckend, erhebend und auch erdrückend. Ohne das Wasser gäbe es nichts von dem, was ich oben beschrieben habe.

      Ohne die Stimme gäbe es keinen Roman. Das gilt sogar für die Romane, in denen die Stimme versucht, nicht aufzufallen, in denen sie ist wie klares, lauwarmes, geschmackloses Wasser. Und doch ist das Wasser da.

      Entsprechend schwierig ist es, einen Aspekt aus der Stimme herauszugreifen, um ihn sich genauer anzusehen – in unserem Bild hätten Sie dann nur Wasser in Händen (und das nicht lange), welches genauso aussieht wie das Wasser ein paar tausend Ozeankilometer weiter westlich.

      Selbst Beispiele bringen ihre Schwierigkeiten mit: Denn sobald der Leser einen Aspekt der Stimme bemerkt, wird er aus dem Fluss der Story gerissen. Aber Sie sind ja als Autor hier im Buch und daher können und wollen Sie genauer hinsehen, mehr erkennen, mehr begreifen. Sie werden eine Menge Entdeckenswertes finden, um es zu analysieren und am Ende in Ihren Romanen anzuwenden.

      Übrigens ...

      »Leider hat mir der Sprecher auch so gar nicht gefallen. Irgendwie bin ich nicht mit ihm warm geworden und das macht für mich schon die Hälfte von einem guten Hörbuch aus.« (cvcoconut über Romy Fölck, »Bluthaus«)

      Mit dem Sprecher eines Hörbuchs gesellt sich eine weitere Stimme zum Chor hinzu. Das Gleiche gilt für Filme und TV-Serien nach Romanvorlagen. Und erleichtert oder erschwert dem Hörer oder Zuschauer den Zugang zur Geschichte. In jedem Fall beeinflusst es ihn.

      Einige Fehler und Irrtümer treten in Zusammenhang mit der Stimme immer wieder auf. Das sind keine Kleinigkeiten, sondern Knackpunkte, die Sie massiv daran hindern, das Potenzial Ihrer Stimmen und Ihrer Romane auszuschöpfen.

      1. Alle reden bei »Stimme« nur von der »Autorenstimme«.

      Ein großer Fehler. Und einer, der Sie als Autorin oder Autor kleiner macht, als Sie sind. Denn Sie verfügen neben Ihrer Autorenstimme über unzählige andere Stimmen: die Stimmen der Erzähler, die Ihren Roman oder Handlungsstrang erzählen, und die Stimmen der Charaktere selbst, etwa in Dialogen. Nicht zu vergessen: die lautlosen Stimmen von alldem Unausgesprochenen und Unaussprechlichen.

      2. Es gibt eine Autorenstimme, die man entdecken muss. Und dann gut.

      Irrtum. Ihre Autorenstimme ist nichts Fixiertes. Sie ist permanent im Fluss und verändert sich wie das Wasser des Flusses. Sie aus dem Wasser zu greifen, reißt sie aus dem Zusammenhang. Ihre Autorenstimme wächst mit Ihnen und Ihrem Vokabular, verändert sich mit Ihnen und Ihren Erfahrungen, erweitert sich mit jedem Erzähler und Charakter, den Sie sprechen lassen, mit zufällig aufgeschnappten Informationen und bewusst recherchiertem Wissen, und sie wird mächtiger mit jedem Stückchen Handwerk, das Sie lernen.

      3. Stimme ist dasselbe wie Stil.

      Nein. Die Stimme umfasst den Stil, ist jedoch weit mehr. Der Stil ist lediglich ein Teil der Stimme: ihre technische, handwerkliche Seite. Zu dieser zählen Emotionen, Haltungen und vieles mehr.

      4. Die Stimme ergibt sich beim Schreiben von selbst.

      Der Satz ist insofern richtig, als Sie nicht stimmlos schreiben können. Und dass Sie nicht bei jedem Satz über die Stimme nachdenken sollten. Doch damit sich intuitiv eine passende und effektive Stimme herausschält, brauchen Sie Erfahrung sowie Wissen um Erzählhandwerk und Sprache. Erst dann ergibt sich eine Stimme, die Ihren Erzählabsichten und Ihrer Geschichte dient, statt sie laufend zu unterwandern. Nur dann geht das Schreiben der Stimme wie von selbst. Damit Sie mehr Zeit haben, über Charaktere, Plot und Spannung nachzudenken.

      5. Als Entdecker (Aus-dem-Bauch-heraus-Schreiber) muss ich mir über die Stimme keine Gedanken machen.

      Sie müssen es nicht. Aber Sie sollten es tun, um einen sehr viel besseren Roman zu schreiben. Gerade Sie als Entdecker brauchen das Wissen um Erzähler und Stimme, um nach dem Aus-dem-Bauch-Schreiben und Die-Story-Entdecken bei der (nüchternen, kopfgesteuerten) Überarbeitung so viel Nutzen aus der Stimme zu ziehen, wie Sie nur können.

      All diese Irrtümer stellen wir im Lauf des Buchs vom Kopf auf die Füße.

      Ein Chor von Stimmen

      In Ihrem Roman wirken zahllose Stimmen wie in einem Chor zusammen: die Stimme eines oder mehrerer Erzähler, die Stimmen der Charaktere, insbesondere in Dialogen und Gedanken, sowie die Stimme des Autors selbst.

      Wie bei jedem Chor ergibt sich der Wohlklang, zeigt sich die Meisterschaft erst durch den Zusammenklang der Stimmen und Stimmlagen. Die Stimmen ergänzen einander, sie bauen aufeinander auf, sie kontrapunktieren oder klingen gemeinsam, sie stellen sich gegenseitig heraus.

      Wenn Sie wissen, was typisch für Ihre Autorenstimme ist, können Sie leichter eigenständige Erzählerstimmen erschaffen. Indem Sie Manierismen, Haltungen, stilistische Eigenheiten und vieles mehr bewusst ergänzen oder weglassen. Das erlaubt es Ihnen, immer wieder neue Erzählstimmen zu schaffen. Für die Arbeit in einem Roman, wo Sie aus mehreren personalen Perspektiven schreiben, erweist sich das als außerordentlich nützlich. Ihre Erzähler klingen unterschiedlich, jeder hat etwas Individuelles, das ihn von den anderen abhebt. Damit gestalten Sie einerseits die Erzähler lebendiger und glaubhafter, andererseits öffnen Sie den Roman und machen ihn welthaltiger, sein Format mehr IMAX als Normalleinwand, mehr Cinemascope als 4:3.

      Entsprechendes gilt für die Stimmen Ihrer Charaktere, die Sie auf diese Weise individueller und besser unterscheidbar gestalten.

      Betrachten Sie Ihre Autorenstimme als die Basis für all die anderen Stimmen, die in Ihnen schlummern: die Stimmen der Erzähler und die all der Charaktere in den vielen Geschichten und Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern, Short Storys und Gedichten, Songs und Musicals, die Sie schreiben und schreiben werden. Ihre Autorenstimme ist der Heimathafen, von wo Sie aufbrechen in die unzähligen Welten und Figuren, die Ihrer Phantasie entspringen, in Abenteuer und Gefahren, in spritzige Erotik und bodenständigen Humor, zu fremden Galaxien oder rüber zu den Nachbarn und ihren Geheimnissen.

      Dieser Hafen ist, wie etwa der in Hamburg, dennoch permanent in Bewegung: Da wird die HafenCity errichtet, die Elbe weiter ausgebaggert, ein neues Kreuzfahrtterminal gebaut – und so verändert sich Ihre Autorenstimme, weil Sie sich verändern, und Sie verändern sich deshalb, weil sich Ihre Stimme wandelt.

      Manche Autoren geben Ihren Lesern einen großen Teil Ihrer Autorenstimme, indem sie die Erzählstimme kaum von ihr abweichen lassen. Andere Autoren wollen hinter den Erzähler zurücktreten und möglichst wenig von ihrer eigenen, der Ur-Stimme preisgeben. Bei vielen ändert sich das von Buch zu Buch, bei manchen bleibt es über die Jahre und Projekte hinweg gleich.

      Wichtig ist, dass Sie Ihren Weg finden, auch stimmlich, als Chorleiter ebenso wie als Sänger auf jeder Stimmlage.

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