Sinnvoll zu betrachten. Geshe Kelsang Gyatso

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Sinnvoll zu betrachten - Geshe Kelsang Gyatso

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haben die meisten Menschen, sogar gebildete und solche, die sich beruflich mit geistigen Phänomenen befassen, oftmals nicht mehr als eine sehr vage Vermutung darüber, was der Geist ist. Wenn unser eigener Standpunkt genauso unbestimmt ist - wenn wir keine schlüssige Theorie haben, die die Beziehung zwischen der materiellen Form und dem immateriellen Geist erklärt-, dann ist es nicht weise, die Theorie, die auf Logik, Beobachtung, Erfahrung sowie auf den Aussagen erleuchteter Wesen gründet, kurzerhand abzulehnen. Zumindest sollten wir aufgeschlossen bleiben und das Thema ohne Vorurteile prüfen.

      Gemäß buddhistischem Denken war der Bewußtseinsstrom schon beim Fötus vorhanden. Noch weiter zurück, im Moment der Zeugung drang dieser Geistesstrom in die embryonale Zelle ein, die aus der Vereinigung des väterlichen Spermiums und der mütterlichen Eizelle gebildet worden war. Vor dem Eintritt war dieses Bewußtsein oder Geisteskontinuum das Bewußtsein eines früheren Lebens. Überdies entstand das Bewußtsein jenes Lebens wiederum aus dem Leben, das diesem voranging, und so weiter zurück bis zur Unendlichkeit. Selbst Buddha Shakyamunis allwissender Geist sah keinen Anfang dieses Prozesses. Wenn das Geisteskontinuum anfangslos ist, müssen wir folglich zahllose Wiedergeburten und demzufolge auch zahllose Mütter gehabt haben. Daher gibt es kein einziges fühlendes Wesen, das nicht zu irgendeiner Zeit unsere Mutter gewesen ist.

      Wenn dem so ist, weshalb erkennen wir nicht intuitiv, daß andere Wesen unsere Mütter waren? Der Grund ist der, daß die traumatischen Erlebnisse des Todes und der Wiedergeburt uns üblicherweise der Erinnerung an vergangene Leben berauben. Dazu kommt, daß es wegen der sich ständig ändernden Form der Lebewesen schwierig für uns ist, sie wiederzuerkennen. Wenn beispielsweise unsere gegenwärtige Mutter sterben und als Hund wiedergeboren würde, wären wir nicht in der Lage, sie wiederzuerkennen, auch wenn sie unser Haustier wäre. Deshalb sind wir, trotz gegenteiliger Erscheinung, von unzähligen Wesen umgeben, die alle unsere Mutter waren.

      Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß nicht allen Wesen die Fähigkeit fehlt, sich an frühere Leben zu erinnern. Viele Yogis erlangen die Fähigkeit, sich an ihre früheren Leben zu erinnern, als Resultat der meditativen Praxis, die die groben Verdunkelungen des Geistes schrittweise ausmerzt. Auch einige gewöhnliche Menschen, insbesondere kleine Kinder, haben aufgrund von besonders klaren Prägungen im Geist oftmals Erinnerungen an vergangene Leben. Die Tatsache, daß die meisten von uns diese Fähigkeit nicht besitzen, ist aber eigentlich nicht erstaunlich, denn schließlich reichen schon die Verworrenheiten dieses Lebens und die allgemeine Dumpfheit unseres Geistes aus, daß wir viele Ereignisse aus der frühen Kindheit, der Säuglingszeit und der Zeit im Mutterschoß vergessen.

      Wenn wir über Begründungen, wie sie oben dargelegt wurden, nachdenken, d.h. wenn wir genau untersuchen, ob sie logisch, ohne Widersprüche, vernünftig und für uns anwendbar sind, nennt man diesen Prozeß analytische Meditation. Aus diesem Untersuchungsprozeß entsteht eine Schlußfolgerung. In diesem Fall ist es ein starkes Gefühl, daß alle Wesen tatsächlich unsere Mütter gewesen sind. Der nächste Schritt besteht darin, dieses Gefühl oder diese Schlußfolgerung kraft unserer Achtsamkeit zu halten und einsgerichtet darauf zu verweilen. Dieser Prozeß wird verweilende Meditation genannt. Durch die fortgesetzte Praxis der verweilenden Meditation entstehen echte Realisationen in unserem Geist. Wenn sich die Erkenntnis gefestigt hat, daß alle fühlenden Wesen tatsächlich unsere Mütter gewesen sind, dann hat man die Realisation der ersten der sieben Stufen zur Entwicklung von Bodhichitta erlangt.

      SICH AN DIE GÜTE ALLER MUTTERWESEN ERINNERN

      Wenn alle Wesen unsere Mütter gewesen sind, wie können wir uns an ihre Güte erinnern? Unsere jetzige Mutter trug uns neun Monate lang in ihrem Mutterleib. Sie nahm immer auf unsere Anwesenheit Rücksicht, ob sie saß, ging, aß oder schlief. Ihr einziger Gedanke war unser Wohlergehen, und wir waren ein kostbares Juwel für sie. Obwohl ihr unsere Geburt großen Schmerz zufügte, dachte sie nur an unser Glück und Wohlergehen.

      Als Kleinkind waren wir fast so hilflos wie eine kleine Raupe, und wir wußten nicht, was gut und was schädlich für uns war. Unsere Mutter sorgte für uns und gab uns ihre Milch als Nahrung. Wenn wir Angst hatten, dann tröstete und liebkoste sie uns in ihren liebenden Armen und wärmte uns mit ihrem Körper. Sie zog sogar weiche Kleidung an, damit unsere empfindliche Haut nicht gereizt wurde.

      Wo sie auch hinging, sie nahm uns mit. Sie hat uns gewaschen und gebadet und hat uns die Nase geputzt. Wenn sie mit uns spielte, hat sie schöne Lieder für uns gesungen und unseren Namen mit besonderer Zärtlichkeit ausgesprochen. Sie hat uns ständig vor den Gefahren durch Feuer und vor Unfällen beschützt. In der Tat wären wir heute nicht am Leben, wenn sie nicht ständig auf uns achtgegeben hätte. Alles, was wir haben und woran wir uns erfreuen, wurde durch die Güte unserer Mutter ermöglicht. Sie hat sich über unser Glück gefreut und nahm an unserem Leid Anteil. Sie sorgte sich über unser kleinstes Unwohlsein, und sie hätte sogar ihr eigenes Leben für uns geopfert. Sie lehrte uns laufen und sprechen, schreiben und lesen und nahm viele Schwierigkeiten auf sich, um uns eine gute Ausbildung zu ermöglichen, und gab uns stets das Beste von allem, was sie besaß.

      Eine Mutter schätzt ihr Kind von der Zeugung bis zum Tod und betrachtet es mit Zärtlichkeit, großer Hingabe und bedingungsloser Liebe. Indem wir uns die grenzenlose Güte unserer jetzigen Mutter vergegenwärtigen, erkennen wir die unendliche Fürsorge, die wir seit anfangsloser Zeit von allen unseren zahllosen Müttern erhalten haben. Wie gütig waren alle diese fühlenden Wesen!

      DIE GÜTE ALLER MUTTERWESEN ERWIDERN

      Sich an die Güte aller fühlenden Mutterwesen zu erinnern ist nicht genug. Nur ein gefühlloser und undankbarer Mensch würde nicht einsehen, daß es unsere Pflicht ist und wir die Verantwortung haben, diese Güte zu erwidern. Dies tun wir, indem wir anderen Lebewesen materielle Geschenke, Vergnügen, Freude sowie andere vorübergehend nützliche Dinge geben. Die beste Erwiderung der unendlichen Güte, die wir erhalten haben, ist jedoch, alle Wesen zum unübertroffenen Glück der vollen Erleuchtung zu führen.

      ZUNEIGUNGSVOLLE LIEBE ENTWICKELN

      Die nächste Stufe in der Entwicklung von Bodhichitta besteht darin, alle Wesen mit zuneigungsvoller Liebe zu betrachten. Diese Geisteshaltung entsteht als natürliches Ergebnis, wenn wir lange Zeit über die drei vorherigen Stufen meditieren.

      Im allgemeinen entsteht ganz natürlich ein warmes Gefühl der Zuneigung in uns, wenn wir unser Kind, unseren Partner oder unsere Eltern sehen, und sie liegen uns am Herzen. Diese Zuneigung entsteht aber nicht, wenn wir andere fühlende Wesen sehen, und besonders nicht, wenn sie uns stören. Wenn wir echten Bodhichitta entwickeln wollen, muß sich dieses warme Gefühl ausweiten, bis es alle Wesen einschließt. Wenn unser Geist infolge langer und beständiger Meditationen daran gewöhnt ist, jedes Wesen mit zuneigungsvoller Liebe und Wärme zu betrachten, haben wir die vierte Stufe in der Entwicklung des Erleuchtungsgeistes realisiert.

      GROSSES MITGEFÜHL ENTWICKELN

      Großes Mitgefühl ist der Geist, der sich wünscht, daß alle Wesen frei von allem Leiden sind. Haben wir bereits zuneigungsvolle, herzerfreuende Liebe entwickelt und diese auf alle Lebewesen ausgeweitet, dann entsteht mühelos ein Geist von Großem Mitgefühl, wenn wir intensiv über die Leiden meditieren, die andere Lebewesen jetzt erfahren. Deshalb ist die Entwicklung von zuneigungsvoller Liebe die wichtigste Ursache für Großes Mitgefühl.

      Der Geist des Großen Mitgefühls umfaßt alle fühlenden Wesen ohne Ausnahme. Im Moment sind wir nicht fähig, unser eigenes Leiden zu ertragen, weil unsere Selbst-Wertschätzung so stark ist. Auch das Leiden unserer Eltern, unserer Familie und unserer Freunde ist für uns unerträglich, weil auch sie uns am Herzen liegen. Wenn wir aber sehen, daß unsere Feinde Schmerzen erleiden, dann freuen wir uns darüber, daß sie leiden müssen. Weshalb? Weil wir

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