Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis. Stephan Waldscheidt
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Die gute Nachricht: Hier sind die Leser sehr leicht zu überzeugen, denn schließlich wollen sie auf die Folter gespannt werden.
Lupton behilft sich mit folgender Konstruktion, in der sie der Schwester – tatsächlich dem Leser – erklärt, wieso sie das Geheimnis bis zum Ende für sich behält. Das Beispiel bringe ich deshalb erneut, weil man Verschiedenes daraus lernen kann.
Und es geht darum, dir zu sagen, warum du ermordet wurdest. Ich könnte am Ende beginnen, dir die Antwort geben, die letzte Seite, aber du würdest eine Frage stellen, die ein paar Seiten weiter zurück führt, dann noch eine, den ganzen Weg dahin zurück, wo wir jetzt sind. Also werde ich dich einen Schritt nach dem anderen führen, so, wie ich selbst dahinterkam, ohne mit meinem Wissen vorzugreifen.
Überzeugt Sie das? Mich nicht. Gar nicht davon zu reden, dass neben dieser doch sehr bemühten Konstruktion das Schreiben eines Briefs an die tote Schwester recht weit hergeholt ist.
Paradoxerweise lassen sich die Leser oftmals eher zum Ablegen ihres Unglaubens (dem berühmten »suspension of disbelief« bewegen, wenn Sie auf vergleichbar abenteuerliche oder weit hergeholte Konstruktionen verzichten – und einfach Ihre Geschichte erzählen.
Den letzten Anstoß, Luptons Buch wegzulegen, hat mir ein Cliffhanger gegeben, der einzig auf den Effekt zugeschnitten wirkt:
Die Erzählerin kommt in die Wohnung der Schwester zurück. Dann:
Jemand war in deinem Schlafzimmer. Die Trauer hatte alle anderen Gefühle erstickt und ich fühlte keine Angst, als ich die Tür öffnete. Ein Mann war im Zimmer und wühlte in deinen Sachen. Wut schnitt durch die Angst.
»Was machen Sie da?«
In dem neuen Geisteszustand der Tiefseetrauer erkannte ich meine eigenen Wörter nicht mehr. Der Mann drehte sich um.
Die Identität des Mannes wird so rasch nicht enthüllt. In einer anderen Erzählperspektive wäre der Cliffhanger nicht mal schlimm, womöglich gelungen. Hier aber empfand ich ihn als konstruiert.
Was eine weitere Gefahr aufzeigt: Hat der Leser Ihre ungewöhnliche Konstruktion oder Erzählweise erst einmal bemerkt, wird sie ihm auch im Folgenden eher auffallen und er wird sensibler reagieren, sprich: leichter aus seinem Erzähltraum zu reißen sein. Jede ungewöhnliche Erzählweise ist eine Einmischung des Autors und mit Risiken behaftet.
Ein Literat sorgt dafür, dass seine Leser seine literarischen Konstruktionen erkennen, um sie würdigen zu können. Ein Erzähler hält sie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.
Das heißt nicht, dass Sie – als Erzähler – nur immer weiter die ausgetretenen Pfade des Erzählens laufen sollen. Aber Sie sollten sich der Risiken bewusst sein, die links und rechts davon lauern. Im Zweifelsfall ist es die bessere Variante, erst das Laufen richtig zu beherrschen, bevor man sich durchs dichte Unterholz schlägt.
Auf der Suche nach dem Schatz: dem Platz in der Bestsellerliste.
Der Anfang Ihres Romans = ein stimmiges Gesamtkonzept
Blitz für NAW
Die Leitstelle meldete sich um 02:47, gerade als Max fand, dass es Zeit für einen Kaffee wäre. »Blitz für NAW 4305 von Florian Berlin, bitte kommen!« Die Funkleitung knackte und rauschte. »NAW 4305, meldet euch!« Ella hatte das Fenster heruntergekurbelt, um die frische Nachtluft in den Wagen zu lassen. Jetzt drückte sie die Sprechtaste und sagte: »Hier NAW 4305.«
»Wo seid ihr gerade?«
»Luisenstraße, auf Höhe der S-Bahn-Überführung. Was gibt’s?«
»Starke Blutung in Kreuzberg«, sagte der Disponent in der Feuerwache durch das knisternde Rauschen. »Vielleicht Schock. Ihr seid am nächsten dran.«
»Adresse?«, fragte Ella.
»Benno-Ohnesorg-Straße 7, Ecke Möckernstraße, oberster Stock. Eine Frau.«
Auf dem Navidisplay am Armaturenbrett erschien die Route vom Standort des Rettungswagens zum Ziel.
»Weitere Angaben?«, fragte Ella, und auf einmal brauchte sie keinen Kaffee mehr.
»Keine weiteren Angaben.«
»Ist jemand bei der Frau?«
»Unbekannt.«
»Wer hat uns gerufen?«
»Ein Mann. Anonym. Er hat nur gesagt, gegenüber stirbt eine Frau. Mehr war nicht, dann hat er aufgelegt.«
So rasant beginnt der Thriller »Erlösung« (Blessing 2011). Nein, das ist nicht der von Jussi Adler-Olsen, sondern der des deutschen Autors C. C. Fischer. Wie lief das wohl mit dem Titelschutz?
Ein Einstieg in medias res – zu deutsch: eine Arschbombe dort hinein, wo du das Wasser des Beckens vor Menschen nicht mehr sehen kannst – hat den Vorteil, den Leser direkt ins Geschehen zu ziehen oder, wenn man genug Verve mitbringt, ihn hineinzureißen.
Fischer verzichtet weitgehend auf direkte Beschreibung, dennoch nimmt er den Leser allein durch die Handlung mit hinein in sein Setting. Er schafft das durch Dialog – auch Dialog ist Handlung! – und im Dialog durch einen berufsspezifischen Jargon, hier den der Rettungssanitäter. Es spielt für das Verständnis keine Rolle, ob der Leser weiß, dass NAW Notarztwagen heißt. Ich bin sogar geneigt zu sagen: im Gegenteil. Das eine oder andere dem Laien unverständliche Wort erhöht für viele Leser die Glaubwürdigkeit noch.
Für die Mehrheit der Leser ist es wichtiger, ob ein Text authentisch wirkt, als dass er authentisch ist, aber eben nicht so wirkt. Fischers Anfang ist, einer Leserin meines Blogs zufolge, weder außergewöhnlich aufregend noch authentisch. Weil sie sich selbst mit solchen Einsätzen gut auskennt.
Aber das ist nicht der Punkt. Es kommt eben nicht primär darauf an, ob etwas für Charaktere der Geschichte aufregend ist, sondern ob es auf den Leser aufregend wirkt. Der Routineeinsatz einer Seenotrettung von einer brennenden Bohrplattform mag für die Rettungskräfte nichts Ausgefallenes sein – und damit ebenso wenig für Leser, die mit solchen Einsätzen vertraut sind. Für die Mehrheit der Leser aber bleibt die Szene dramatisch.
Für eine andere Kommentatorin meines Blogs war es gerade das Routinierte des Dialogs, das zur raschen Orientierung in der Szene und in der Welt dieses Romans beigetragen hat. Das scheinbar Überflüssige für die eine Leserin war für die andere genau das richtige Maß, um sich vollständig in die Stimmung des Romans zu versenken.
Ob die Fakten stimmen oder nicht und ob und wie weit sie stimmen müssen, ist ein anderes Problem. Meiner Meinung nach ist ein Roman ein Roman, also Fiktion, und wer tief genug bohrt, wird immer etwas finden, was nicht »stimmt«, also nicht der Realität entspricht.
Warum