Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis. Stephan Waldscheidt
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis - Stephan Waldscheidt страница 8
Nach einem einzigen Absatz verlässt der Autor die Erzählgegenwart und nimmt den Leser, der noch nicht an dem neuen Ort, Phora, angekommen ist, gleich wieder mit in eine andere Zeit, an einen anderen Ort.
Anschließend wird der Leser über die Magie vor Ort aufgeklärt und über Rabovs Arbeit als Ermittler. Danach berichtet der Autor über Rabovs Ex-Geliebte, anschließend über die gestrige Begegnung mit einer Hellseherin, um dann noch tiefer in die Vergangenheit zu gehen und über die Zeitenwende und das Klima zu berichten.
Rabov sitzt derweil noch immer beim Frühstück. Nach einigen weiteren Gedanken über Magie, seinen Laden und seine Ex-Geliebte steht Rabov auf und geht vor die Tür.
Dort erinnert er sich sogleich an eine Begebenheit mit einem böswilligen Verwandlungsmagier, der ihm sein Ladenschild verändert hat. Dann ist das 1. Kapitel zu Ende.
Passiert ist gar nichts.
Im 2. Kapitel läuft Rabov durch die Stadt, erinnert sich an dies und an jenes, denkt nach über seine Nachbarn, über die Stadt, über seine Karriere. Am Ende des 2. Kapitels trifft er oben erwähnten Verwandlungsmagier. Das ist das erste Ereignis in der Erzählgegenwart. Dann dauert es jedoch noch das komplette, mehrere Seiten lange 3. Kapitel, um eine einzige kleine Information rüberzubringen.
Das ist alles keineswegs schlecht und steckt voller liebenswerter Details. Der Trott wird manchem Leser gefallen, der gerne durch die Auslagen mit Beschreibungen und Anekdoten schlendert. Aber ist es gut genug, viele Leser für den Roman zu begeistern? Ist es gar optimal?
Ein Infodump verhindert, dass die Handlung in Gang kommt. Das allein schreckt viele Leser ab. Schlimmer sind die Folgen. Zu einem Helden, der nicht handelt, sondern nur nachdenkt, baut der Leser nur schwer eine emotionale Verbindung auf. Nicht minder schlimm: Informationen, die nicht in Handlung eingebunden und – mitschreiben! – nicht von der Handlung gefordert werden, interessieren weniger oder gar nicht.
Beispiel. Sie können Ihren Lesern erzählen, dass ein tasmanischer Teufel ein unberechenbares Biest mit scharfen Zähnen ist und verdammt viel Kraft im Kiefer ist. Oder Sie zeigen das Tier, wie es die Schwiegermutter des Helden erst in die Wade beißt und dann, als die Frau kreischend zu Boden fällt, sich über ihr Gesicht hermacht und der Held es nicht mehr von ihr herunterkriegt. Obwohl er seine Schwiegermutter mag. Ehrlich.
In Fantasy- und SF-Romanen wird das dadurch gravierender, dass sich fantastisch klingende Namen, Orte, Gegebenheiten schwieriger merken lassen. Überhaupt sorgt schon unser Gehirn dafür, dass ein Infodump nicht funktioniert: Zu viel Information auf einmal überfordert schlicht unser Gedächtnis.
Was hilft dem Gedächtnis? Richtig: Handlung und Dynamik. Information, die in Handlung eingebettet ist oder dynamisch geschildert wird, lässt sich leichter merken.
Schlimmstenfalls enthält der Infodump eben nicht nur Nettes, aber Belangloses, sondern Informationen, die der Leser später braucht, um der Handlung folgen oder den Roman ausgiebig genießen zu können.
Der Vorteil: In einem Infodump lassen sich Informationen bewusst verstecken.
Der Nachteil: Meistens wird alles Wichtige so tief begraben, als hätte es niemals das Licht der aufgeschlagenen Buchseite erblickt. Dann entgehen dem Leser die Punkte, an denen der Autor später anknüpft. Statt »Aha!« gibt es vom Leser bloß ein »Hä?«.
Gerade bei unerfahrenen Autoren führt das Bedürfnis, sich sklavisch an die Chronologie zu halten, eben zu Infodumps. Niemand zwingt Sie, die Handlung streng chronologisch zu erzählen. Es ist nicht die Chronologie, der Sie sich verpflichtet fühlen sollten, sondern die Dramaturgie.
Letztlich gilt für die Darstellung und Aufbereitung von (unverzichtbaren) Informationen das Gleiche wie für alle Bestandteile Ihres Romans: Auch Informationen sollten sich prägnant und spannend lesen.
[Meinen Dank an Kai, durch dessen wertvollen Kommentar im Blog ich diesen Artikel weiter vertiefen konnte.]
Auslagern von Persönlichkeitsmerkmalen auf Nebenfiguren
Wenn Engel und Teufel um eine Seele streiten
Ihr Roman lässt sich vertiefen, indem Sie mit Subplots das Thema aus einer anderen Sicht beleuchten oder die Prämisse auf eine andere Art beweisen oder widerlegen. Bei Ihren Charakteren können Sie alternative Aspekte der Heldin mittels Nebenfiguren zeigen und – das ist besonders hilfreich – auch agieren lassen.
In Ihrem Roman »Die Wand« (Mohn Verlag 1963) lagert die Autorin Marlen Haushofer Facetten, Eigenschaften ihrer Heldin auf andere Figuren aus. In dieser Endzeitvision aus den 1960ern wird die Protagonistin in einem Gebiet der Alpen eingeschlossen – von einer unsichtbaren, unüberwindlichen Wand. Alles menschliche und tierische Leben jenseits davon scheint erloschen. Die namenlose Heldin will weiterleben. Sie arrangiert sich mit ihrer Lage. Das Weiterleben gelingt ihr nur mit Hilfe einiger Tiere, die sie auf ihrer Seite der Wand findet: des Hundes Luchs, der Kuh Bella und mehrerer Katzen.
Nicht von ungefähr gab Marlen Haushofer den Roman ihrem ersten Leser mit folgenden Worten zu lesen: »Hier ein Katzenroman.« Das ist mehr als bloßes Understatement.
Diese Auslagerung der Persönlichkeit findet sich, besonders bildhaft, in den Romanen der Reihe »His Dark Materials« von Philip Pullman (ab 1995 / der erste Band als Film: »Der goldene Kompass«, USA, Großbritannien 2007; Regie und Drehbuch: Chris Weitz). Dort hat jeder Mensch seine Seele in ein Tier ausgelagert, das ihn ständig begleitet.
Ein andres schönes Bild ist uns aus zahllosen Filmen und Cartoons vertraut: Auf der Schulter des Helden sitzend streiten sich ein Engelchen und ein Teufelchen miteinander.
In der Wirklichkeit findet sich Vergleichbares: bei den Totems der Indianer, die als eine Art Schutzgeist, Krafttier, Urahn betrachtet werden. Und nicht zuletzt bei dem Klischee, dass ein Hund seinem Besitzer mit der Zeit immer ähnlicher wird.
An folgenden Stellen aus »Die Wand« wird deutlich, dass Marlen Haushofer die Tiere als Symbole oder Aspekte ihrer selbst verwendet (bewusst oder unbewusst):
Luchs, schöner, braver Hund, wahrscheinlich macht nur mein armer Kopf das Geräusch deiner Tritte, den Schimmer deines Fells. Solange es mich gibt, wirst du meine Spur verfolgen, hungrig und sehnsüchtig, wie ich selbst hungrig und sehnsüchtig unsichtbare Spuren verfolge. Wir werden beide unser Wild nie stellen.
(…)
Wenn ich »Winter« denke, sehe ich immer den weißbereiften* Fuchs am verschneiten Bach stehen. Ein einsames, erwachsenes Tier, das seinen vorgezeichneten Weg geht. Es ist mir dann, als bedeute dieses Bild etwas Wichtiges für mich, als stehe es nur als Zeichen für etwas anderes, aber ich kann seinen Sinn nicht erkennen.
(…)
Luchs war immer selig, als ich ihn streichelte. Freilich, er konnte gar nicht anders, aber ich vermisse ihn deshalb nicht weniger. Er war mein sechster Sinn. Seit er tot ist, fühle ich mich wie ein Amputierter.
(…)
Im Traum bringe ich Kinder zur Welt, und