Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis. Stephan Waldscheidt
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Als Symbol für die Erzählerin selbst, in ihrer Gänze, steht (neben dem weißen Fuchs) eine weiße Krähe, die entsprechend im letzten Satz des Romans eine Rolle spielt. Die anderen Tiere – die im Roman und die aus dem oben zitierten Traum – stellen Facetten der Protagonistin dar, die mal mehr, mal weniger offensichtlich sind.
Indem Sie Teile der Persönlichkeit eines Charakters auslagern, können Sie in Ihrem Roman Aspekte Ihrer Hauptfigur nicht nur agieren, sondern sogar miteinander in Konflikt treten lassen.
Beispiel. In Ihrer Heldin streiten sich Ordnungsliebe und Chaos miteinander. Sie zeigen einen Streit zwischen Berta, der Tochter Ihrer Heldin, die für die Ordnungsliebe steht, mit dem Sohn der Heldin, Max, der für das Chaos antritt.
Sie können noch weiter gehen und wiederum aus den Handlungen der Kinder Rückkopplungen zur Mutter einflechten: Wie reagiert sie auf den Streit? Welche Seite nimmt sie ein? Was sind ihre Argumente dafür?
Das alles wird, sofern es sich um wesentliche und für den Roman wichtige Facetten der Persönlichkeit Ihrer Heldin handelt, Ihren Roman vertiefen. Zugleich bietet Sie dem Leser damit eine spannendere Alternative zu inneren Monologen.
Auch symbolische Wirkungen können Sie auf diese Weise verstärken.
Beispiel. In einem Unternehmen macht der neue Mitarbeiter dem alten Hasen seine Position streitig. Der schon stereotype Satz des alten Hasen dazu: »Du erinnerst mich an mich.« Der Aufsteiger symbolisiert, er versinnbildlicht den Hasen, wie er in seiner eigenen Jugend war. Interessant (weil konfliktreich) wird es dann, wenn der Junge einen anderen Weg einschlägt als der Alte damals und den Alten, gerade dadurch, schlägt. So etwa in dem Filmklassiker »Wall Street« mit Michael Douglas und Charlie Sheen (USA 1987; Regie: Oliver Stone; Drehbuch: Stanley Weiser, Oliver Stone).
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*) Nein, dem Fuchs hat man keine weißen Reifen aufgezogen. Sein Fell sieht aus, als trüge es weißen Reif.
[Meinen Dank an Solveig, durch deren hilfreichen Kommentar im Blog ich diesen Artikel um einen Aspekt erweitern konnte.]
Wie Sie Ihre Charaktere den Lesern näher bringen
So fesseln Sie Ihre Leser (an die Heldin Ihres Romans)
Kinofilme des Hollywood-Mainstreams eignen sich wegen ihrer übersichtlichen und klaren Struktur gut zum Studieren klassischer Plot-Formen. Kinder- und Jugendbücher sind meist vergleichsweise einfach (wenngleich nicht notwendig simpel) gestrickt. Auch an ihnen lässt sich gut zeigen, worauf es beim Erzählen ankommt.
Beispielhaft ist, wie Christoph Marzi in seinem Roman »Grimm« (Heyne 2010) die jugendliche Heldin Vesper einführt. Nach wenigen Seiten hat er den Lesern all das geliefert, was sie brauchen, um die Figur zu mögen, sich für sie zu interessieren und ihr beizustehen durch dick und dünn.
Marzi arbeitet mit bewährten Eigenschaften. In einem Erwachsenen-Roman (Randnotiz: Was stellen Sie sich unter einem erwachsenen Roman vor? Was muss ein Roman haben, um erwachsen genannt zu werden?) wirken diese womöglich ein wenig flach, banal oder stereotyp. Man sollte aber nicht vergessen, dass das Zielpublikum noch nicht so viele Klischees und Stereotype eingesammelt hat wie Erwachsene – der 28-Jährigen ihr alter Hut ist dem 8-Jährigen seine Offenbarung.
Welche Eigenschaften machen Vesper zu einem Menschen, den wir mögen, wertschätzen, ja, vielleicht als Heldin anhimmeln, falls wir noch etwas jünger sind?
Vesper ist stark. Die klassisches Heldeneigenschaft. Wir mögen starke Charaktere.
Vesper ist ehrlich. Das war, bei Erscheinen von Marzis Buch, nicht mehr bloß eine Sekundärtugend. In unsicheren Zeiten mit einer sehr ungewissen Zukunft, in der Betrügen zur Normalität zu werden scheint, dürften solche Eigenschaften wie Ehrlichkeit neue Bedeutung gerade bei Kindern und Jugendlichen gewinnen.
Vesper ist unabhängig. Während Stärke allein etwas bieder und langweilig wirken mag, ist Unabhängigkeit gerade bei einer Frau oder einem Mädchen etwas Aufregendes für jugendliche Leserinnen. Einen Helden zeichnet seine Unabhängigkeit aus, was auch heißt: Individualität. Ein Held ist keiner, der in einer Gruppe zum Sieg rennt. (Die Helden von Bern, die 1954 das Fußballwunder von Bern vollbrachten, mögen mir das verzeihen.)
In dieselbe Kerbe haut auch das Rebellische in Vesper (Sorry, das Rebellische haut in die Kerbe? Frühmorgenmetapher …). Sie ist nicht zufrieden mit den Zuständen, und, noch wichtiger: Sie ist nicht bereit, sich mit diesen Zuständen abzufinden. Sie tut etwas dagegen.
Womit eine essenzielle Eigenschaft einer Heldin präsent wäre: Eine Heldin wird aktiv, sie reagiert nicht, sie agiert. In Autorensprache übersetzt: Sie bringt einen Roman voran, sie wirft sich gegen die Hindernisse, die ihr auf dem Weg zu ihrem Ziel im Weg stehen. Man kann es nicht oft genug sagen: Passive Helden sind der sichere Tod jedes Romans.
Vesper ist eigen. Sie hat etwas an sich, was andere nicht haben. Sie denkt ihre eigenen Gedanken, zieht ihre eigenen Schlussfolgerungen. Das hat viel mit Unabhängigkeit zu tun, beschreibt jedoch mehr die Unabhängigkeit im Denken.
Eigen sein heißt oft auch, originell zu sein. Wir lieben originelle Helden: Sie überraschen uns mit ihren Ideen, mit witzigen Dialogen, sie lösen die Probleme des Plots auf ihre, eben ganz eigene Art.
Eigentlich (sic!) ist ein eigener Charakter denkbar weit vom Klischee entfernt. Doch wenn alle Charaktere eigen sind, wird auch diese Eigenschaft (sic! schon wieder) zum Klischee. Jüngere Leser wird das nicht stören – und es stört auch die meisten älteren nicht. Denn was wäre die Alternative? Ein Held, der nicht eigen ist, also genau wie alle anderen? Darüber will keiner etwas lesen.
Diese positiven Eigenschaften beleuchten jedoch nur eine Seite der Heldin. Sie muss uns auch einen Grund geben, weswegen wir uns emotional an sie binden, uns in sie einfühlen. Und das tut Vesper, tut ihr Schöpfer Marzi:
Vesper ist neu in der Schule, die Umgebung, die Leute sind ihr fremd. Sie kann wenig mit diesen seltsamen Modepüppchen anfangen, die sie zu ihrer Freundin machen wollen, nicht ihr zuliebe, sondern weil ein angesagter Junge auf Vesper steht. Dieses Gefühl, neu und fremd zu sein, kennt jeder. Wir fühlen mit Vesper mit, identifizieren uns bestenfalls mit ihr.
Vesper wird von ihren Eltern vernachlässigt (versteht sich aber gut mit ihnen, wenn sie denn mal da sind). Auch hier fühlen wir mit, eine starke Emotion. Dass Vesper sich dennoch nicht mit ihren wenig elterlichen Eltern fetzt, rechnen wir dem Mädchen unbewusst hoch an. Und mögen sie ein Stück mehr dafür.
Noch stärker aber dürfte diese Emotion sein: das Gefühl starker Ungerechtigkeit, weil Vesper in ihrer letzten Schule von ihrem Lehrer begrabscht wurde – und sie, nicht der Lehrer von der Schule flog.
Auch Vespers Taten nehmen die Leser für sie ein: Sie kümmert sich um die kleine Tochter einer Freundin, ganz offenbar uneigennützig.
Ohne das Rad des Erzählens neu zu erfinden, nimmt Marzi die Leser für seine Heldin ein. Auch Sie dürfen sich dabei an Bewährtes halten und sich auf seine Wirkung verlassen. Was wir an Menschen schätzen und was sie tun müssen, damit wir sie mögen können und ihnen näherkommen möchten, ist keiner Mode unterworfen. Die meisten dieser Handlungen und Eigenschaften sind heute so wirkungsvoll wie vor dreißig Jahren und werden es in dreißig und mehr Jahren auch noch sein.
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