Nächtliche Besuche bei Stefan Sternenstaub. Edda Blesgen
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Читать онлайн книгу Nächtliche Besuche bei Stefan Sternenstaub - Edda Blesgen страница 8
Die drei Monate vergingen. Eines Morgens brachte man den Häftling vom Gefängnis zum Justizgebäude, wo der Prozess gegen ihn stattfinden sollte. Auf dem Weg dorthin drängten sich die Leute neugierig in den Straßen. Doch als er vorüber geführt wurde, ging ein enttäuschtes Murmeln durch die Menge.
„Das ist doch nicht der Zwergpirat. Dieser lange Kerl kann doch nicht der Zwergpirat sein.“
Tatsächlich, Goliath war in den vergangenen Wochen von all dem Lebertran und den Unmengen Spinat unglaublich in die Höhe geschossen, er überragte seine Wärter um einen Kopf.
„Ihr habt den Zwergpiraten entkommen lassen“, donnerte der Richter die Aufseher an. „Die Seeräuber haben ihren Anführer aus dem Gefängnis befreit und einen Unschuldigen an seiner Stelle eingesperrt. Nehmt ihm sofort die Fesseln ab und lasst ihn laufen.“
Ehe er sich besann, stand der Piratensohn als freier Mann auf der Straße und trug sogar noch einen Beutel mit Münzen bei sich, mit denen man ihn für die Tage im Kerker entschädigt hatte. So schnell ihn seine nun langen Beine trugen, floh er aus der Stadt.
Von dem Geld kaufte der Junge sich einen Fischerkahn. Diesen belud er mit Spinat und Lebertran als Proviant und fuhr aufs Meer hinaus. Mehrere Tage trieb er auf den Wellen. Da tauchte am Horizont das Schiff seines Vaters mit der schwarzen Totenkopffahne auf.
Der Zwergpirat stand an Bord. Er war es gewohnt, alles, was sich auf dem Wasser bewegte, vor ihm fliehen zu sehen. Doch dieser Mensch in dem elenden Fischerkahn schien keinen Respekt vor ihm zu haben, er steuerte direkt auf ihn zu. Der Kapitän kniff die Augen zusammen und spähte nach dem Insassen des Wasserfahrzeuges. Und jeder liebevolle Vater, selbst ein Seeräuber, erkennt seinen Sohn, auch wenn er ihn mehrere Monate nicht mehr gesehen hat und dieser in der Zwischenzeit unheimlich gewachsen ist.
„Hallo, Goliath, du lebst noch?“ rief er ihm erfreut zu. „Komm an Bord, damit ich dich umarmen kann.“
Der Matrosen ließen eine Strickleiter hinunter. Doch der Piratensohn zögerte.
„Einen Augenblick noch, ich muss erst meinen Teller leer essen“, entgegnete er.
„Was isst du denn da?“ wollte der Vater wissen.
„Spinat“, rief der Junge hinauf.
„Spinat?“ Der Seeräuberkapitän war sprachlos. Er sah seinem Sohn staunend zu, der seelenruhig den Teller leer löffelte und dann erst zu ihm hinaufkletterte. Sie umarmten sich.
„Du machst deinem Namen alle Ehre“, sagte der Kapitän und führte Goliath in seine Kajüte. Dort saßen sie stundenlang beisammen und der Junge erzählte, wie Spinat und Lebertran ihm geholfen hatten.
„Fabelhaft“, staunte der Pirat, „fabelhaft. Vielleicht sollte ich es auch einmal damit versuchen? Wer weiß, vielleicht wachse ich auch noch?“
Und weil er alles was er tat, besonders gründlich machte, entließ er seine Seeräuber-Mannschaft, verkaufte das Schiff und erwarb vom Erlös ein großes Stück Land, nahe bei Kleinmeindorf, wo ihn niemand kannte. Der Zwergpirat und sein Sohn bauten ein Haus und pflanzten Spinat an, nur Spinat, soweit man sehen konnte, Spinat.
Und wenn die beiden abends müde von der Feldarbeit heimkamen, dann aßen sie ihr Grünzeug und tranken dazu Lebertran.
Als der Zwergpirat älter wurde und ihm das Bücken schwer fiel, überließ er seinem Sohn allein den Ackerbau. Er eröffnete in Kleinmeindorf eine Gaststätte und nannte sie ‚Piratenschiff’. Hungrigen Kneipenbesuchern servierte er Spinat mit Spiegeleiern. Aber gegen den Durst mochte niemand Lebertran trinken. Der Zwergpirat stand hinter der Theke, schenkte seinen Gästen Bier, Wein, Schnaps aus und erzählte dabei haarsträubende Seeräubergeschichten. Die Kleinmeindorfer lauschten gebannt. Sie wunderten sich über die lebhafte Fantasie des Wirtes. Niemand glaubte, er habe all die verwegenen Abenteuer selbst erlebt. Man lächelte gutmütig über ihn, weil er unbedingt mit ‚Zwergpirat’ angeredet werden wollte. Diesen freundlichen älteren Herrn, der Sohn und Schwiegertochter liebte, seine inzwischen zahlreichen Enkel vergötterte und die Gäste verwöhnte, konnte sich keiner als gefühllosen, messerwetzenden, enterhakenschwingenden Bösewicht vorstellen.
Trotz Spinat und Lebertran wuchs der Zwergpirat nicht mehr. Er blieb ein Zwerg sein Leben lang. Doch Pirat - nein, dieser Teil seines Namens passte nicht mehr zu ihm. Nie wieder trieb er sich als Seeräuber auf den Meeren herum.“
„Spinat und Spiegeleier - hm, das könnte mir auch schmecken.“ Mützenkater leckt sich das Schnäuzchen. „Stellt euch vor, ich bot der Katzendame Tiffany eine saftige Birne an, die ich für sie gepflückt und am Stängel herbeigeschleppt hatte. Sie zog beleidigt von dannen und rief mir zu, ich solle erstmal das Mäusefangen lernen, ehe ich mich ihr wieder nähere. Aber Tiffany wird wohl als alte Jungfer sterben; ich kann keiner Maus etwas zuleide tun. Jetzt auf zum ‘Piratenschiff’! Vielleicht stehen dort Reste für mich herum. Tschüss ihr beiden.“
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