Piranesis Räume. Klaus Heitmann

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Piranesis Räume - Klaus Heitmann

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wiederum ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Sie befindet sich notwendigerweise über den Einzelheiten, die am Rande des Weges liegen. Zieht also die Gerade durch zwei Punkte und ihr habt sowohl Richtung durch als auch Überblick über den Raum. Nur so könnt ihr der täuschenden Vielfalt der Einzelheiten entgehen.“

      „Die Lösung unseres Problem ist, wie ihr meint, die Linie“, antwortete Piranesi. „Das ist eine schmale Basis für zwei Personen, die schwer miteinander auskommen. Am besten wäre, wenn ich nicht weiter zusammen mit diesem Hühnermenschen durch den Raum gehen müsste. Könnt ihr uns Wege zeigen, auf denen wir getrennt zu unserem Ziel kommen?“

      „Auch mir wäre dies am liebsten“, ergänzte Salametti, „denn irgendwie sind wir wie Huhn und Ei. Auf Dauer können sie doch nicht beieinander bleiben.“

      Der Alte antwortete: „Das Grundgesetz des Raumes lautet, dass sich alle Linien einer Ebene schneiden, ausgenommen die Parallelen. Wenn ihr also getrennte Wege gehen wollt, müsst ihr parallel zueinander laufen. Dann werdet ihr euch, auch wenn ihr nahe beieinander seid, nie mehr ins Gehege kommen.

      Piranesi schien dies einleuchtend, weswegen er Salametti dazu überredete, dass sie getrennte Wege gehen. Sie vereinbarten, jeder solle in einem bestimmten Abstand seine Linie ziehen und beide darauf achten, dass der Abstand erhalten bleibt. Die Schwierigkeit bestand allerdungs darin, die Richtung der Linie zu bestimmen, an der entlang ihre Wege verlaufen sollten. Denn der Zielpunkt konnte nicht beliebig gewählt werden. Am sinnvollsten schien es ihnen daher, den Zielpunkt in der Richtung zu wählen, die dem zuletzt zurückgelegten Weg gegenüber lag. Frohen Mutes ging jeder an sein Werk.

      Schon bald stellte sich aber heraus, dass die Verwirklichung des Vorwurfes alles anderes als einfach war. Die Bauten und Wege des Raumes waren nicht auf die Linie ausgerichtet, die sie einzuhalten bestrebt waren. Daher waren allerhand Umwege und Überbrückungen nötig. Erschwert wurde alles noch dadurch, dass größere Bauteile die Sicht auf die Linie zeitweilig versperrten, mit der Folge, dass sie Gefahr liefen, das Ziel aus den Augen zu verlieren. Immer wieder mussten sie sich daher vergewissern, ob sie noch auf dem geraden Weg waren. Piranesi ging zur Sicherheit häufig sogar noch einmal ein Stück zurück. Davon abgesehen, konnte man die Linie wegen der Unübersichtlichkeit des Raumes immer nur in Etappen abstecken. Daher mussten sie, nachdem ein Zwischenziel erreicht war, jeweils sicherstellen, dass das nächste Zwischenziel vom Ausgangspunkt aus gesehen noch auf der Gesamtgeraden lag. Auch hier erschwerten dazwischen liegende Bauten, Wände und Treppen die Kontrolle.

      Aber auch dann, wenn sie geradewegs einem vorläufigen Ziel zustrebten, stellten sich Probleme. Als Zwischenziel hatte Piranesi einmal eine weithin sichtbare Terrasse gewählt, an deren Ecken vier mit Gittern verbundene runde Wachtürmchen angebracht waren.

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      Unter erheblichen Mühen war es ihm gelungen, die Richtung auf dieses Ziel beizubehalten. Schließlich war die Terrasse zum Greifen nahe. Er war von ihr nur noch durch einen tiefen Graben getrennt, den eine steinerne Brücke überspannte. Drüben angekommen stand er aber vor einer Wand, die keinen Durchlass hatte. „Seltsam“, sagte er sich, „ich habe mich dem Ziel auf dem denkbar geradesten Weg genähert, bin aber dennoch nicht angekommen. Der direkte Weg scheint nicht unbedingt der richtige zu sein.“ Es schien ihm geradezu, dass das Ziel um so schwerer zu erreichen war, je mehr er sich darauf konzentrierte. Piranesi vermutete, dies sei auch der Grund dafür, dass er entgegen der Behauptung des Griechen immer wieder mit Salametti zusammenstieß, was letzterer unter Berufung auf die Verwandtschaft von Huhn und Ei jeweils dazu nutzte, von Piranesi Hilfe bei der Einhaltung eines geraden Weges zu verlangen, mit der er völlig überfordert war.

       VI

      In diesem Augenblick bemerkten die beiden einen Mann, der sie seit längerem beobachtet hatte. Er trug die wallende Kleidung altorientalischer Juden und hielt eine Mappe in seiner Hand, in der lose Blätter lagen. Sein Kopf war nach Art der Wüstenbewohner in ein Tuch gewickelt, welches sein Gesicht so weitgehend verbarg, dass man sich von ihm kein klares Bild machen konnte.

      „Seid nicht verzweifelt“, sprach sie der Jude an, „ihr fühlt euch in diesem Raum gefangen. Ich verspreche euch aber, dass ihr erlöst werden werdet.“

      „Du hast gut reden“, sagte Piranesi, „sag uns lieber, wie wir hier schnellstmöglich wieder herauskommen.“

      „Eure Knechtschaft in diesem Raum wird ein Ende haben. Denn vor euch liegt eine ebene Bahn.“

      „Ich sehe nur ein unüberwindliches Gebirge von Mauern, das nur von undurchschaubaren Abgründen unterbrochen wird“, widersprach Piranesi.

      Der Jude schlug nun einen hohen Ton an und verkündete mit ekstatischem Singsang: „Alle Täler werden erhöht werden und alle Berge und Hügel erniedrigt werden und was uneben ist, wird gerade und was hügelig ist, wird eben werden.“

      „Dein Wort in Gottes Ohr oder besser umgekehrt“, sagte Piranesi. „Wohin sollen wir also gehen?“

      „Geht in Richtung auf dieses Zeichen und seid zuversichtlich“, sagte der Mann und deutete auf die Kreuzung zweier Galerien, die durch einen Bogen weit in der Ferne sichtbar war.

      „Versuchen wir es also mit dieser Richtung“, sagte Piranesi und marschierte los. „Hoffentlich hat er Recht“, sagte er zu Salametti, als der Mann außer Hörweite war. „Es war reichlich viel Zukunft in seinen Worten. Ich hatte den Eindruck, als wolle er eine unerfreuliche Vergangenheit und eine ebensolche Gegenwart zugunsten einer besseren Zukunft wegreden.“

      „Ich glaube, dass er sich hier auskannte“, sagte Salametti und schritt mit neuer Kraft eine Treppe hinauf.

      „Mich würde nicht wundern, wenn wir ihn oder seinesgleichen an diesem Kreuz wiederträfen, dass man dort feststellt, wir seien auf dem richtigen Wege, weil wir am prophezeiten Ort angekommen sind, und dass die Bestätigung dieser Prophetie dann als Ausweis für die Berechtigung gilt, uns auch den weiteren Weg weisen zu können.“

      Dazu sollte es allerdings nicht kommen. Denn entgegen den Versprechungen des Juden wurde der Weg nicht einfacher und die Höhen und Tiefen blieben, was sie schon immer waren. Überall standen und lagen weiterhin Wände, Säulen und Balken im Weg. Und so dauerte es nicht lange, dass die beiden Männer das Ziel, das ihnen der Jude bezeichnet hatte, aus den Augen verloren. Aus dem gleichen Grund konnten sie auch nicht zurückblicken, um festzustellen, wo sie hergekommen waren.

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