Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London

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versuchen.«

      »Aber kann ich denn nicht vielleicht eine besondere Veranlagung zum Schreiben haben?« fragte er, im geheimen stolz darauf, wie er sich ausdrückte, und seine lebhafte Einbildungskraft ließ sofort die ganze Szene mit ihrer Atmosphäre auf einem riesigen Schirm erscheinen, neben andern Auftritten aus seinem Leben – Auftritten, die roh und grob, brutal und tierisch waren.

      Die ganze vielgestaltige Vision entstand mit Blitzesschnelle, ohne das Gespräch oder sein ruhiges Denken zu unterbrechen. Auf dem Schirm seiner Phantasie sah er sich selbst und dieses schöne, liebliche junge Mädchen, sah, wie sie sich in einem Zimmer voll Stil und Kultur, mit Büchern und Bildern gegenübersaßen und in einem guten, reinen Englisch miteinander sprachen, und über dem ganzen Bild lag ein gleichmäßiges, helles, glänzendes Licht, während sich ringsum und nach dem Rand des Schirmes zu, immer blasser werdend, Auftritte ganz anderer Art gruppierten, jeder Auftritt ein Bild, das er selbst als Zuschauer nach Belieben betrachten konnte. Diese andern Szenen sah er durch treibende Dünste und trübe, wirbelnde Nebel, die von roten, grellen Lichtstrahlen zerstreut wurden. Er sah Cowboys am Schanktisch stehen und schlechten Whisky trinken, die ganze Atmosphäre geladen mit Obszönität; er sah sich selbst mit ihnen trinken und fluchen, mit den Wildesten von ihnen unter blakenden Petroleumlampen sitzen, während die Spielmarken klapperten und schepperten und die Karten ausgeteilt wurden. Er sah sich selbst, nackt bis zum Gürtel, mit bloßen Fäusten seinen großen Kampf mit Liverpool Red auf dem Vorderdeck der »Susquehanna« ausfechten, und er sah das blutige Deck der »John Rogers« an dem grauen Morgen, als die Mannschaft zu meutern versuchte und der Steuermann im Todeskampf auf der Großluke um sich trat, während der Revolver in der Hand des Alten Feuer und Rauch spie und die Leute mit wutverzerrrten, gemeinen Gesichtern, freche Gotteslästerungen ausstoßend, rings um ihn fielen – und dann kehrte er wieder zu dem Bild in der Mitte des Schirmes zurück, das ruhig und rein im klaren Lichte dastand: da saß Ruth und sprach mit ihm über Bücher und Bilder, und er sah den Flügel und hörte das Echo seiner eigenen, wohlgesetzten und korrekt ausgesprochenen Worte: »Aber kann ich denn nicht vielleicht eine besondere Veranlagung zum Schreiben haben?«

      »Es kann ein Mann auch die besten Anlagen zum Schmied haben«, sagte sie lächelnd, »aber ich habe noch nie gehört, daß jemand Schmied wurde, ohne erst seine Lehrzeit durchgemacht zu haben.«

      »Was würden Sie mir denn raten?« fragte er. »Aber vergessen Sie nicht, daß ich die Veranlagung zum Schreiben in mir fühle – ich kann es nicht erklären, ich weiß nur, daß ich sie habe.«

      »Sie brauchen eine gründliche Ausbildung«, lautete die Antwort, »ganz gleich, ob Sie schließlich Schriftsteller werden oder nicht. Diese Ausbildung ist unerläßlich, welche Laufbahn Sie auch wählen wollen, und sie darf nicht oberflächlich und lückenhaft sein. Sie sollten die höhere Schule besuchen.«

      »Ja – «, begann er; aber sie unterbrach ihn, als wäre ihr noch etwas eingefallen:

      »Natürlich könnten Sie auch weiter schreiben.«

      »Das müßte ich wohl«, sagte er grimmig.

      »Wieso?« Sie sah ihn ziemlich verblüfft an, denn der Eigensinn, mit dem er an seiner Idee festhielt, gefiel ihr nicht ganz.

      »Weil es nichts mit der höheren Schule werden kann, wenn ich nicht schreibe. Ich muß leben und mir Bücher und Kleidung kaufen, wissen Sie.«

      »Das hatte ich ganz vergessen«, lachte sie. »Warum sind Sie auch nicht mit einem Einkommen auf die Welt gekommen!«

      »Mir sind Gesundheit und Phantasie lieber«, antwortete er. »Ein Einkommen kann ich mir schaffen, aber die beiden andern Dinge nicht, verflucht noch mal!«

      »Das dürfen Sie nicht sagen«, unterbrach sie ihn mit einem reizenden Schmollen. »Das klingt schrecklich!« Er errötete und stammelte:

      »Sie haben recht, und ich möchte nur, daß Sie mich immer korrigieren.«

      »Das… das werde ich auch gern tun«, sagte sie zögernd. »Es steckt soviel Gutes in Ihnen, daß ich Sie gerne ganz vollkommen sehen möchte.«

      Sofort war er Wachs in ihren Händen und verlangte ebenso leidenschaftlich, sich von ihr umformen zu lassen, wie sie selbst wünschte, ihn zu ihrem Ideal eines Mannes umzuformen. Und als sie ihn darauf aufmerksam machte, daß der Zeitpunkt jetzt günstig sei, weil das Aufnahmeexamen für die Oberschule am folgenden Montag begann, erbot er sich sofort, die Gelegenheit wahrzunehmen.

      Dann spielte und sang sie ihm vor, während er sie mit der Sehnsucht eines Hungernden anstarrte, ihre Schönheit trank und sich wunderte, daß nicht hundert Bewunderer ihr lauschten, wie er ihr lauschte.

      Zehntes Kapitel

      An diesem Tage blieb er zum Essen, und zu Ruths großer Genugtuung machte er einen guten Eindruck auf ihren Vater. Sie sprachen über die Seefahrt als Beruf – ein Gegenstand, den Martin in- und auswendig kannte –, und Herr Morse bemerkte später, daß er ein sehr vernünftiger junger Mann zu sein schiene. Da Martin allen Slang vermeiden wollte und häufig nach den richtigen Ausdrücken suchte, war er gezwungen, langsam zu sprechen, was ihm wiederum ermöglichte, seine besten Gedanken zu finden. Er war freier als an jenem ersten Abend vor etwa einem Jahr, und seine Bescheidenheit verfehlte nicht ihre Wirkung auf Ruths Mutter, die sich über die deutliche Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, freute.

      »Er ist der erste Mann, der je Eindruck auf Ruth gemacht hat«, sagte sie später zu ihrem Gatten. »Sie ist bisher Männern gegenüber so ungewöhnlich zurückhaltend gewesen, daß ich mir schon große Sorgen um sie gemacht habe.«

      Herr Morse blickte seine Frau neugierig an.

      »Und nun willst du diesen jungen Seemann dazu gebrauchen, sie zu ›erwecken‹?«

      »Soweit ich dazu beitragen kann, soll sie nicht als alte Jungfer sterben«, lautete die Antwort. »Wenn der junge Eden in ihr das Interesse für Männer überhaupt erregen könnte, so wäre das gut.«

      »Ausgezeichnet«, stimmte er zu. »Aber nimm an – man muß auch an so etwas denken, mein Kind –, nimm an, daß er in allzu hohem Maße ihr Interesse für sich persönlich erregt?«

      »Unmöglich!« lachte Frau Morse. »Sie ist drei Jahre älter als er, und überhaupt ist das doch ganz unmöglich. Das hat keine Gefahr. Verlaß dich auf mich.«

      Und so wurde Martin eine Rolle zugeteilt, während er, von Arthur und Norman angeregt, an eine große Unternehmung dachte. Sie wollten am Sonntagmorgen auf ihren Rädern in die Berge fahren, was Martin nicht interessierte, bis er hörte, daß Ruth auch mitfuhr. Er radelte zwar nicht, wenn Ruth es aber tat, wollte er auch damit anfangen, und so ging er denn auf dem Heimweg in eine Fahrradhandlung und gab vierzig Dollar für ein Fahrrad aus. Das war mehr als die mühsam verdiente Heuer eines ganzen Monats und riß ein großes Loch in seinen Geldbeutel; wenn er aber die hundert Dollar, die er vom ›Examiner‹ bekommen würde, zu den vierhundertundzwanzig Dollar legte, die das Jugendmagazin ihm als Mindestsumme zahlen mußte, so hatte er das Gefühl, auf diese Weise nur die Verlegenheit zu verringern, die ihm die ungewohnte Geldsumme bereitet hätte. Es machte auch nicht viel Eindruck auf ihn, daß er bei der Übungsfahrt nach Hause seinen neuen Anzug verdarb. Er rief am selben Abend vom Laden seines Schwagers aus den Schneider an und bestellte sich einen neuen. Dann trug er das Fahrrad die enge Treppe hinauf, die sich wie eine Feuerleiter an die Rückseite des Hauses klammerte, und als er sein Bett von der Wand abgerückt hatte, fand er, daß das kleine Stübchen gerade genügend Raum für ihn und das Fahrrad bot.

      Den

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