Vendetta Colonia. Peter Wolff
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Die Tics, die ihn immer häufiger heimsuchen, fallen hier nicht weiter ins Gewicht, dass er infolge der Zuckungen länger für seine Arbeit braucht, ist in der Werkstatt des Heims egal.
Die Umstände seines Umzugs ins Pflegeheim hat Alfredo Bugno noch keinesfalls überwunden.
Er hat die letzten Monate so erlebt, als wäre ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden.
Seinen Arbeitsplatz bei Fiat hat er verloren. Hatte sein Chef, Mario Stroppa, nach Ausbruch der Erkrankung nicht mehrmals betont, dass er Möglichkeiten sieht, ihn anderweitig in der Firma einzusetzen? Was hat Stroppa wohl zum Umdenken bewegt?
Alfredos Vermieter hat wie aus heiterem Himmel Eigenbedarf angemeldet und ihm die Wohnung gekündigt. Obwohl der Mann mehrere Mehrparteien-Miethäuser besitzt. Sehr ungewöhnlich, denkt sich Alfredo.
Dass Guiseppe Scirellis hinter all' dem steckt, ahnt Alfredo Bugno nicht einmal.
Dieser hat ganze Arbeit geleistet. Als bei seinem Cousin das Tourette-Syndrom diagnostiziert wird, setzt er alle Hebel in Bewegung, den jungen Mann aus dem öffentlichen Leben zu entfernen.
Nachdem er Fiat-Fertigungsleiter Mario Stroppa unmissverständlich klar gemacht hat, dass er seinem Cousin die Kündigung auszusprechen hat, setzt er Alfredos Vermieter unter Druck, indem er ihm damit droht, sämtliche Objekte, die er besitzt, im Hinblick auf Beschädigungen und Sicherheitsrisiken zu kontrollieren.
Beide beugen sich der Macht des Scirelli-Clans und funktionieren so, wie es in Guiseppes perfiden Plan passt.
Alfredo Bugno wird das Ansehen, wird den Ruf der Famiglia nicht beschmutzen.
11
Werner Schmitz nimmt der Aufbau der neuen Sportredaktion sehr in Anspruch. Er führt viele Gespräche, ist sehr akribisch in der Auswahl seiner potenziellen Mitarbeiter.
Trotzdem bleibt die Zeit, sich intensiv um eine Wohnung für seine neue, junge Bekanntschaft und deren Vater zu kümmern.
Er beschränkt sich dabei auf Objekte in den westlichen Stadtteilen Köln – schließlich wohnt er in Ehrenfeld und wer weiß: Vielleicht wird es sich ja irgendwann als praktisch erweisen, dass Clarissa Kramer in einem angrenzenden Stadtteil lebt...
Dank der Kontakte des aufstrebenden Journalisten ist schon bald etwas Passendes für die Kramers gefunden: eine schöne Zweizimmerwohnung in der Piusstrasse in Köln-Lindenthal. Eine Genossenschaftswohnung zwar, die eigentlich nur die Mitglieder der Genossenschaft mit preisgünstigem Wohnraum versorgen soll, aber der kölsche Klüngel ist in den 60er Jahren in der Domstadt allgegenwärtig.
Für alle Nicht-Kölner: Als Kölner Klüngel, Kölscher Klüngel oder einfach Klüngel wird in Köln ein System auf Gegenseitigkeit beruhender Hilfeleistungen und Gefälligkeiten bezeichnet.
"Man kennt sich und man hilft sich." So definierte der ehemalige Bundeskanzler und Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer den kölschen Klüngel (24).
Der Begriff Klüngel ist im Kölner Raum durchaus positiv besetzt, im Sinne von "eine Hand wäscht die andere", über Beziehungen verfügen oder "vernetzt" sein.
Werner Schmitz jedenfalls ist in den 60er Jahren in Köln bestens vernetzt: Ein Anruf bei der richtigen Stelle und er kann Horst und Clarissa Kramer die freudige Nachricht überbringen. Zwei Monate Wartezeit nehmen die Kramers für die günstige wie gemütliche Wohnung gern in Kauf.
Nachdem das Wohnungsproblem gelöst ist, intensivieren Werner und Clarissa ihren Kontakt. Sie treffen sich regelmäßig, er nimmt sie mit auf diverse Sportveranstaltungen, zunehmend wird Clarissa auch Werners Begleitung bei gesellschaftlichen Anlässen.
Werner lebt noch in einem kleinen Appartement in der Lichtstraße, einem alten Arbeiterviertel in Ehrenfeld, im Nebenhaus seines Elternhauses.
Er hat sich nach dem Krieg vornehmlich um seine Karriere als Journalist gekümmert und genießt darüber hinaus nach wie vor die Kochkünste seiner Mutter im Nebenhaus, die ihm auch die Wäsche macht. Als er diese einmal mehr in einem großen Kopfkissenbezug abholt, stellt ihn Mutter Elsa zur Rede.
„Und, hast Du das Mädchen von der Domplatte wiedergesehen?“
„Clarissa? Aber ja doch!“
„Das freut mich. Du wirst auch nicht jünger und so langsam wird es Zeit, dass Du mal mit einer jungen Dame sesshaft wirst. Oder willst Du ewig in dem kleinen Appartement neben Deinen Eltern wohnen bleiben?“
„Wollt ihr mich loswerden?“
„Aber nein, das weißt Du doch. Nur, jetzt, wo Du einen sicheren Arbeitsplatz hast und gutes Geld verdienst, denk' doch auch einmal an Dein Privatleben.“
„Das tue ich, Mama. Und gerade in den letzten Wochen umso mehr.“
„Wegen Clarissa?“
„Sei nicht so neugierig, Mama.“
12
Als Borna Krupcic in Novisad aus dem Zug steigt, staunt er nicht schlecht: Beinahe die gesamte Familie erwartet ihn. Sicher, mit seinen Eltern, seinen Geschwistern und natürlich mit seiner Ana und den zwei Kindern war zu rechnen. Aber dass auch seine Tanten, Onkel Cousins und Cousinen samt ihren Familien nahezu komplett erschienen sind, um ihn zu begrüßen, lässt Borna Krupcic beinahe die Fassung verlieren. Er weint hemmungslos, nimmt einen nach dem anderen in den Arm und hat Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. „Zahvaliti“, „Danke.“ schluchzt er mehrmals.
Bornas Eltern haben den Hinterhof ihres kleinen Häuschens bunt geschmückt, das Radio spielt heimische Musik, aus der Küche riecht es herrlich nach regionalen Köstlichkeiten.
Nach und nach gesellen sich auch Nachbarn zu der feiernden Familie, es wird ein langer Abend.
„Borna, erzähl' doch mal, wie es Dir so ergangen ist“, ergreift Zlatko, ein guter Freund Bornas, das Wort.
„Wo soll ich anfangen, Zlatko? Es sind so viele neue Erfahrungen, so viele neue Menschen, die ich kennengelernt habe.“
„Und die Arbeit?“, fragt ein Freund der Familie.
„Ich arbeite bei Ford, einem großen Werk in Köln. Jeden Tag bis zu zehn Stunden. Schichtdienst, mal fange ich früh an, mal spät. Ich bin da in der Fertigung beschäftigt, ich montiere Autoteile. Man muss dort sehr schnell arbeiten, das kannte ich bisher nicht. Ich habe mich aber ganz gut daran gewöhnt mittlerweile.“
„Und wie gefällt Dir die Stadt?“, möchte ein anderer Gast der Krupcics wissen.
„Die Stadt...wie soll ich sagen, irgendwie besonders ist sie. Die Leute sind sehr offen und es wird viel gelacht. Man feiert auch viel. Und an Karneval...“
„An was ?!“ fragt Zlatko.
„Karneval. Das ist ein Fest in Köln, einmal im Jahr, meistens im Februar. Da verkleiden sich die Leute und ziehen durch die Straßen, sechs Tage lang!“
„Warum