Der unheimliche "Erste Diener des Staates". Walter Brendel

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Der unheimliche

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Wilhelm Francke protegierte die Familie Ritter. Die pietistische Frömmigkeit prägte die ersten Kinderjahre der kleinen Doris. Doch es gelang ihrem Vater auch nach dem Erwerb des Magistertitels nicht, eine feste Anstellung zu finden. Er musste sich als Privatdozent durchs Leben schlagen. Währenddessen avancierte die Universität Halle immer mehr zu der preußischen Universität schlechthin, deren Absolventen mit Vorliebe in Verwaltung und Beamtenschaft eingesetzt wurden. Der neue König Friedrich Wilhelm I., der 1713 den Thron bestieg, war von großer persönlicher Frömmigkeit und folgte oft den Empfehlungen der Hallenser Theologieprofessoren, insbesondere dem von ihm geschätzten Francke, wenn es um Stellenbesetzungen ging. Franckes Schüler wurden in den Belangen von Kirche, Schule und Staatsdienst bevorzugt.

      Welche Eigenschaften der preußische Regent sonst noch besaß, wurde auch in Halle bald deutlich. Er erwarb sich bald den Spitznamen „Soldatenkönig“ wegen seiner Bevorzugung des Militärs und der Aufstellung eines Regiments besonders hoch gewachsener Männer. Diese „langen Kerls“ warb man von überall her. Junge Leute wurden durch reisende Werber, oftmals mit unlauteren Mitteln, zum Soldatendienst gebracht. In Halle gab es Studentenunruhen, als Fälle von Zwangsrekrutierungen bekannt wurden.

      Des Weiteren war König Friedrich Wilhelm rasch als Geizhals verschrieen. Er hatte, um die vom väterlichen Vorgänger ererbten Schulden zu tilgen, den Hofstaat drastisch reduziert. Im Alltag lebte er selbst anspruchslos und bescheiden. Sein wirtschaftliches Denken hatte für manchen unangenehme Folgen, nicht nur für die eigene, vielköpfige Familie des Herrschers (die wenig standesgemäß Hofhalten musste). Im Jahre 1716, als Johanna Rosina Ritter geboren wurde, suchte die berühmte Gräfin Cosel Zuflucht in Halle. Sie wollte dort Asyl, um der Rache ihres früheren Liebhabers zu entgehen, Kurfürst und König August der Starke. Als sie den vom „Soldatenkönig“ geforderten Preis für die Freilassung ihres inhaftierten Vetters nicht bezahlen konnte, lieferte er sie an den Herrscherkollegen aus. Für Anna Constantia von Cosel bedeutete dies fast 50 Jahre Haft auf Burg Stolpen.

      Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass der Thronfolger ein Mensch von bisexueller Veranlagung war. Dem Leutnant Friedrich Ludwig Felix von Borcke schrieb er leidenschaftliche Briefe, wie später seinem Kammerdiener und Vertrauten Michael Gabriel Fredersdorff (auch dieser ein ausgezeichneter Flötist). Sein Verhältnis zu dem Pagen Peter Christoph von Keith verursachte hochgezogene Augenbrauen und selbst die Freundschaft zu Hans Hermann von Katte wurde mitunter aus homoerotischem Blickwinkel gesehen - wenn auch solche Bemerkungen erst nach Kattes Tod nachweisbar sind. Voltaire macht in seinen Memoiren ganz unverblümte Andeutungen über Friedrichs Neigung zu Männern.

      Andererseits äußerte sich der Thronfolger in seiner Rheinsberger Zeit brieflich in oft derben Ausdrücken über die intimen Vorzüge seiner Ehefrau Elisabeth Christine. Und aus den Memoiren der Schwester Wilhelmine wissen wir um die Geschichte seiner ersten Liebe zu einer Frau.

      Mit knapp 16 Jahren durfte der Prinz seinen Vater zu einem Besuch bei August dem Starken nach Dresden begleiten. Staunend nahm der junge Mann den Unterschied zwischen dem puritanischen Leben daheim und dem üppig-barocken Stil des Sachsen wahr. In einem „Lebenden Bild“ präsentierte man den preußischen Gästen die als Venus verkleidete - oder besser entkleidete - Tänzerin Formera, die damals nach Dresden verpflichtet worden war. Zwar hielt der „Soldatenkönig“ dem Sohn rasch seinen Hut vors Gesicht, doch bald danach genoss Friedrich dennoch im Bett der Formera erstmals die Gunst einer Frau.

      Zur selben Zeit verliebte er sich ernsthaft in die 20jährige Anna Katharina Orzelska (1707-1769), eine natürliche und vorn Vater legitimierte Tochter Augusts des Starken. „Sie ... fiel durch Geist, Bildung und literarische Interessen auf und ihr gutes Herz zeigte sich in ungemessener Wohltätigkeit“, heißt es von ihr (Ulrich Graf Schwerin). Eine Beschreibung, die übrigens auch wortgetreu auf Doris Ritter zutreffen könnte. Wann immer -wenn überhaupt - Frauen Zugang zu Friedrich II. fanden, mussten sie diese Eigenschaften besitzen.

      Der Abschied von Gräfin Orzelska fiel dem Prinzen so schwer, dass er nach der Ankunft in Berlin ernsthaft erkrankte. Erst als der sächsische Hof zum Gegenbesuch antrat und Anna mit von der Partie war, kam seine Gesundheit wieder ins Lot. Die Orzelska fand Mittel und Wege, sich mit dem streng Abgeschirmten zu treffen, was für sie nicht ohne Folgen blieb. Zum großen Ärger ihres Vaters August wurde Anna schwanger. Mehrfach versuchte sie, dass unerwünschte Kind abzutreiben, doch dies misslang, und schließlich gebar sie Anfang Februar 1729 einen gesunden Sohn. Da weder sie noch der mutmaßliche Erzeuger Friedrich von dieser Elternschaft begeistert waren, das Kind auch nicht offiziell anerkannt wurde, brachte man es nach Frankfurt/Oder zu einem gewissen Richter Carrel, der es aufziehen sollte.

      Danach kühlte sich die Beziehung rasch ab. Als Gräfin Orzelska abermals nach Preußen reiste, versuchte sich Friedrich vor der Begegnung zu drücken. 1730 heiratete sie Karl Ludwig von Holstein-Beck. Zu dieser Zeit war bereits Doris Ritter in das Leben des Thronfolgers getreten.

      Die Ritters waren nach ihrer Übersiedlung von Perleberg nach Potsdam in eine Dienstwohnung im „Prediger- und Schulhaus“ gezogen, die Vater Matthias als Rektor der „deutschen Schule“ (später: Gymnasium) zustand. Das vierstöckige Gebäude lag gegenüber der Ostseite der Nikolaikirche am Alten Markt und beherbergte auch die Schulräume selbst.

      Die Kirche, in der Matthias Ritter die liturgischen Gesänge leitete, war erst 1721 -1724 an Stelle eines mittelalterlichen Vorgängerbaus von Philipp Gerlach errichtet worden. Der Grundriss hatte die Form eines griechischen Kreuzes. Die heutige Gestalt der Nikolaikirche ist völlig anders, da jenes Bauwerk 1791 niederbrannte und durch ein Bauwerk Schinkels ersetzt wurde.

      Die Kantorstochter war dem Kronprinzen zunächst als Solosängerin im Gottesdienst aufgefallen, dann während eines Spaziergangs am Havelufer. Kurzerhand folgte er ihr - gemeinsam mit dem Leutnant von Ingersleben, der ihn begleitete - und klopfte an die Tür der Ritter'schen Wohnung.

      Außer Doris war niemand daheim. Sie behauptete später, bei dieser eisten Begegnung den Prinzen nicht einmal erkannt zu haben. Es kam zu einem kurzen Gespräch. Bald darauf suchte Friedlich - mal allein, mal in Gesellschaft Ingerslebens - fast täglich Doris und ihre Familie auf. Das war schon deshalb ungewöhnlich, weil der Prinz ansonsten den näheren Umgang mit Bürgerlichen weder suchte, noch dies von ihm, der Standesunterschiede wegen, erwartet wurde. Der König nannte ihn „stolz und hoffärtig“, der Historiker E. Vchse schrieb: „Friedrich ging mit Bewusstsein von dem Prinzip aus, Adel und Bürgerstand streng auseinanderzuhalten ... Er halte schon als Kronprinz ein Vorurteil gegen Bürgerliche, die er weder im Militär noch im Zivil in hohen Stellen sehen wollte.“

      Die - durch gelebte pietistischc Frömmigkeit geförderte - Harmonie innerhalb der Familie Ritter mag Friedrich angezogen haben, war es doch das genaue Gegenteil der eigenen häuslichen Verhältnisse. Hier gab es keine getrennten Hofhaltungen von Vater, Mutter und Kindern, auch war der Umgang miteinander nicht durch Regeln und Etikette versteift. Man war füreinander da und sprach offen über alles. Statt ein bis zwei Stunden täglich sahen die Kinder mindestens einen Elternteil den ganzen Tag. Es herrschte Vertrauen untereinander. Für den Prinzen erschloss sich damit eine fremde, bisher unbekannte Welt: die enge, aber wärmespendende Welt einer bürgerlichen Familie. So betrachtete Friedrich die Potsdamer Dienstwohnung, die dieses kleine Reich beherbergte, als eine Art Geborgenheit schenkendes Asyl. Zum Glück war ja der Weg vom Stadtschloss über den Alten Markt zu seinen entfernten „Nachbarn“ nicht gerade weit.

      Auch wenn Vater Matthias nicht anwesend war, wurde musiziert. Doris saß am Klavier (Voltaire, der sie in seinen Memoiren erwähnt, nennt ihr Spiel allerdings „ziemlich schlecht“) und sang, während der Prinz die Flöte blies. Darüber hinaus scheint die Kantorstochter ihm auch noch Musikunterricht gegeben zu haben, glaubt man den Aussagen des Freiherrn von Pöllnitz. Friedrich besaß großes musikalisches Talent, das ihn sogar zum Komponieren befähigte. Damit stand er in seiner Familie nicht allein: auch die Schwestern Wilhelmine und Anna Amalie waren begabt und beherrschten

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