Jerusalem. Selma Lagerlöf

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Jerusalem - Selma Lagerlöf

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von den Bergen gestürzt, es rieselte aus der Erde heraus; da stand Wasser in jeder Wagenspur und in jeder Pflugfurche; es sah aus, als sei es überall, und alles Wasser suche sich einen Weg nach dem Fluß hinab zu bahnen, der höher und höher schwoll und mit immer stärkerer Eile dahinrollte. Es war nicht dunkel und blank und still wie gewöhnlich, sondern gelbgrau von all dem trüben Wasser, das in ihn hinabströmte, und wie er daher gerauscht kam, voller Balken und Eisblöcke, sah es wunderlich unheimlich und drohend aus.

      Im Anfang achteten die Erwachsenen nicht weiter auf die Wasserflut, sondern nur die Kinder, die unten am Elf standen, sobald sie eine freie Stunde hatten, und den rasenden Strom sahen, und alles, was er mit sich führte.

      Bald waren es nicht nur Balken und Eisblöcke; es kam noch viel mehr als das. Er kam dahergeschwommen mit Waschbrücken und Badehäusern, und bald darauf kam er mit Booten und Stücken von zerstörten Flußbrücken.

      »Er nimmt wohl auch bald unsere Brücke mit, ja, das tut er,« sagten die Kinder. Sie waren ein wenig ängstlich, aber die Freude darüber, daß etwas so Merkwürdiges geschehen würde, war doch überwiegend.

      Plötzlich kam eine große Tanne mit Wurzeln und Zweigen dahergetrieben, und hinter ihr drein segelte eine Espe mit ihrem weißen Stamme, und vom Ufer aus konnte man sehen, daß die dicken Zweige große Knospen hatten, die infolge des langen Bades schwollen. Und ganz dicht hinter den Bäumen her kam ein kleiner auf den Kopf gestellter Heuboden. Er war noch voller Heu und Stroh, und schwamm auf seinem Dach, wie ein Boot auf seinem Kiel.

      Aber als erst solche Gegenstände vorübergetrieben wurden, gerieten die Erwachsenen auch in Bewegung. Sie sahen, daß der Elf irgendwo nordwärts über seine Ufer getreten sein mußte, und eilten nun mit Stangen und Bootshaken an den Strand, um Gerätschaften und Gebäude an Land zu bergen.

      Ganz im Norden des Kirchspiels, wo das Land nur spärlich bebaut war, und wo nur wenige Menschen wohnten, stand Ingmar Ingmarsson allein am Flußufer. Er war jetzt über die Fünfzig hinaus, und sah älter aus als seine Jahre. Das Gesicht war grob und gefurcht, der Rücken war gebeugt, er sah ebenso unbeholfen und hilflos aus wie immer.

      Er stand da und stützte sich auf einen langen, schweren Bootshaken und sah mit einem stumpfen und schläfrigen Blick über den Fluß hinaus. Der Fluß brauste und schäumte und glitt stolz mit allem vorüber, was er von den Ufern geraubt hatte. Es sah so aus, als ob er den Bauer wegen seiner Langsamkeit verhöhne; es war, als sage er: Du wirst es nicht sein, der mir etwas von dem entreißt, womit ich mich belastet habe!

      Der Bauer sah Flußbrücken und Bootsrümpfe dicht an sich vorüber segeln, ohne einen Versuch zu machen, sie zu retten. Das wird schon im Kirchdorf geborgen werden, dachte er.

      Und doch verwandte er kein Auge von dem Elf, sondern beobachtete alles, was da, vorüberfloß. Plötzlich kam, eine gute Strecke von ihm entfernt, etwas schimmernd Gelbes auf einigen zusammengenagelten Brettern geflossen, und er entdeckte es augenblicklich. »Ja, darauf habe ich schon lange gewartet,« sagte er laut zu sich selbst. Er konnte noch nicht sehen, was das Gelbe war, aber für den, der weiß, wie die Kinder in Dalarne gekleidet gehen, war es leicht zu erraten. »Nun haben da wieder welche draußen auf einer Waschbrücke gesessen und gespielt, dachte er, und zwar solche, die keinen Verstand genug hatten, an Land zu gehen, ehe die Flut sie ergriff.«

      Es währte nicht lange, bis der Bauer sah, daß er richtig gemutmaßt hatte. Er konnte deutlich sehen, wie drei kleine Kinder in gelben Beiderwandkleidern und gelben, runden Mützen auf einer schlecht zusammengezimmerten Brücke, die langsam von dem Strom und den zusammenprallenden Eisblöcken in Stücke geschlagen wurde, den Fluß hinabgesegelt kamen.

      Die Kinder waren noch weit entfernt, aber Ingmar wußte, daß sich ziemlich nahe an seinem Ufer eine Stromschnelle in dem Fluß befand. Wenn nun Gott so gnädig sein wollte, es so zu lenken, daß die Brücke, auf der die Kinder saßen, in die Stromschnelle hineingeriet, so war es nicht unmöglich, daß er sie an Land ziehen konnte.

      Er stand ganz still und sah über den Fluß hinaus. Da war es, als wenn jemand der Brücke einen Stoß gab, sie drehte sich und glitt auf sein Ufer zu. Die Kinder kamen so nahe, daß er ihre kleinen, angstvollen Gesichter sehen und ihr Weinen hören konnte.

      Aber trotzdem waren sie weiter draußen, als daß er sie von dem Ufer aus mit dem Bootshaken hätte erreichen können. Er wollte an das Wasser hinab und begann in den Fluß hinauszuwaten.

      Ehe er das tat, hatte er ein wunderliches Gefühl, als ob ihn jemand zurückrufe. »Du bist kein junger Mann mehr, Ingmar. Du setzt vielleicht dein Leben aufs Spiel!«

      Er besann sich einen Augenblick und überlegte, ob er das Recht habe, sein Leben zu lassen. Seine Frau, sie, die er einstmals aus dem Gefängnis heimgeholt hatte, war vor ein paar Monaten gestorben, und seit der Zeit hatte er den innigen Wunsch gehabt, ihr bald nachzufolgen. Aber auf der anderen Seite war sein Sohn, der den Hof übernehmen sollte, noch nicht erwachsen. Er mußte um seinetwillen das Leben wohl noch aushalten.

      »Es muß nun auf alle Fälle so gehen, wie Gott will,« sagte er.

      Jetzt war er nicht mehr unbeholfen und langsam, dieser große Ingmar. Als er in den brausenden Fluß hinausging, bewegte er sich an der Stange vorwärts, um nicht von dem Strom mit fortgerissen zu werden, und gab genau acht auf die Blöcke und Balken, die vorüberflossen, damit sie ihn nicht umrissen. Und als dann die Waschbrücke kam, bohrte er die Füße in den Sand hinein, streckte den Bootshaken aus und packte sie dann.

      »Haltet euch fest!« rief er den Kleinen zu; denn im selben Augenblick machte die Brücke eine große Wendung, und es krachte in den Planken.

      Aber die gebrechliche Brücke hielt, und der große Ingmar brachte sie aus der ärgsten Strömung hinaus, dann ließ er sie los; denn er wußte, daß sie jetzt von selbst ans Ufer treiben würde.

      Wieder stieß er die Stange fest in den Grund und wandte sich um, um selbst an Land zu gehen. Aber er hatte einen großen Balken nicht beachtet, der dahergesaust kam. Der prallte gegen ihn und traf ihn in die Seite, gerade unter den Arm.

      Es war ein entsetzlicher Stoß; der Balken war mit mächtiger Wucht dahergesaust, und der große Ingmar schwankte im Wasser hin und her. Aber er ließ den Bootshaken nicht los und gelangte an Land. Als er wieder am Ufer stand, wagte er kaum, seinen Körper zu befühlen; der ganze Brustkasten war gewiß zertrümmert. Sein Mund füllte sich plötzlich mit Blut. »Jetzt ist es mit dir aus, großer Ingmar,« dachte er. Er konnte keinen Schritt weitergehen, sondern sank am Ufer nieder.

      Die kleinen Kinder, die er gerettet hatte, schrien so laut, daß Leute kamen und er nach Hause geschafft wurde.

      Vom Ingmarshof wurde nach dem Pfarrer geschickt. Der blieb den ganzen Nachmittag dort oben. Als er am Abend nach Hause kam, ging er zu Schulmeisters hinüber. Er hatte im Laufe des Tages etwas gehört, worüber er sich aussprechen mußte.

      Der Schulmeister und Mutter Stina waren sehr betrübt, denn sie hatten schon gehört, daß Ingmar Ingmarsson tot war. Der Pfarrer dahingegen kam mit leichten Schritten gegangen. Es lag etwas so Lichtes und Klares über ihm, als er zu ihnen in die Stube trat.

      Der Schulmeister fragte gleich, ob er noch rechtzeitig gekommen sei. – »Ja,« sagte der Pfarrer, »aber dort hatte man keine Verwendung für mich.« – »Nein?« fragte Mutter Stina. – »Nein,« sagte der Pfarrer und lächelte geheimnisvoll. »Er konnte ebensogut ohne mich fertig werden.«

      »Es kann manchmal sehr schwer sein, an einem Sterbebett zu sitzen,« sagte der Pfarrer. – »Jawohl, jawohl,« nickte der Schulmeister. – »Ja, und namentlich, wenn es der erste Mann im Dorfe ist, der stirbt.« – »Ja, freilich.«

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