1984. George Orwell

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1984 - George Orwell

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ihrer Blicke heute Morgen war es immer noch unmöglich zu wissen, ob O’Brien nun ein Freund oder ein Feind war. Das schien aber nicht einmal eine große Rolle zu spielen, denn es bestand eine Verbindung des Verständnisses zwischen ihnen, die wichtiger war als Zuneigung oder Parteinahme. „Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt“, hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das bedeutete; er wusste nur, dass es auf die eine oder andere Weise wahr werden würde.

      Die Stimme aus dem telescreen machte eine Pause. Ein Trompetensignal, klar und schön, schwebte durch die stockende Luft. Die Stimme fuhr heiser fort: „Achtung! Ihre Aufmerksamkeit, bitte! Von der Malabar-Front ist in diesem Moment eine Kurzmeldung eingetroffen. Unsere Streitkräfte in South India haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich bin befugt zu sagen, dass die Aktion, über die wir jetzt berichten, das Ende des Krieges in greifbare Nähe rückt. Hier ist die Kurzmeldung...“

      „Jetzt gibt’s schlechte Nachrichten“, dachte Winston. Und tatsächlich wurde nach einer blutigen Schilderung der Vernichtung einer eurasischen Armee unter Angabe von erstaunlichen Zahlen zu Toten und Gefangenen die Ankündigung verlesen, dass ab nächster Woche die Schokoladenration von dreißig auf zwanzig Gramm reduziert werden würde.

      Winston stieß erneut auf. Der Gin hörte langsam auf zu wirken und hinterließ ein Gefühl der Leere. Der telescreen – vielleicht, um den Sieg zu feiern, vielleicht, um die Erinnerung an die verlorene Schokolade zu ertränken – brach aus in ein lautes Oceania, ‘tis for thee. Bei diesen Klängen wurde zwar Strammstehen erwartet, aber in seiner jetzigen Position war Winston unsichtbar, also blieb er sitzen.

      Dann wich die Nationalhymne etwas leichterer Musik. Winston ging zum Fenster hinüber, weiter mit dem Rücken zum telescreen gewandt. Der Tag war immer noch kalt und klar. An einem Ort in der Ferne schlug eine Raketenbombe ein, mit einem dumpfen, hallenden Dröhnen. Etwa zwanzig oder dreißig von ihnen fielen derzeit pro Woche auf London.

      Unten auf der Straße ließ der Wind das zerrissene Plakat immer noch hin und her flattern, und das Wort INGSOC erschien und verschwand in unregelmäßigen Abständen. Ingsoc. Die heiligen Prinzipien von Ingsoc. Newspeak, doublethink, die Veränderlichkeit der Vergangenheit. Winston fühlte sich, als wanderte er in den Wäldern unbekannter Meerestiefen umher, verloren in einer monströsen Welt, in der er selbst das Monster war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft unvorstellbar. Welche Gewissheit hatte er, dass auch nur ein einziges lebendes menschliches Wesen auf seiner Seite war? Und welche Art von Wissen konnte er haben, dass die Herrschaft der Partei nicht FÜR IMMER Bestand haben würde? Wie eine Antwort fielen ihm die drei Parolen auf der weißen Fassade des Ministeriums der Wahrheit wieder ein:

      KRIEG IST FRIEDEN

      FREIHEIT IST SKLAVEREI

      UNWISSENHEIT IST STÄRKE.

      Er nahm ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus der Tasche: Auch darauf waren, in winziger, klarer Schrift, die gleichen slogans eingraviert, und auf der anderen Seite der Münze prangte der Kopf von Big Brother. Selbst von einem solchen kleinen Geldstück aus verfolgten diese Augen jeden; von Münzen, von Briefmarken, von Buchumschlägen, von Transparenten, von Plakaten und von der Hülle jeder Zigarettenschachtel – von überallher und ohne Unterlass: Jeder war stets beobachtet von diesen Augen und umgeben von den Stimmen aus den allgegenwärtigen telescreens. Schlafend oder wach, bei der Arbeit oder beim Essen, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett: kein Entkommen. Nichts gehörte einem Menschen mehr selbst, außer den paar Kubikzentimetern in seinem Schädel.

      Die Sonne hatte sich weiterbewegt, und die unzähligen Fenster des Ministeriums der Wahrheit sahen ohne das auf sie scheinende Licht nun düster aus, wie die Schießscharten einer Festung. Winstons Herz stockte angesichts des Umrisses dieser gewaltigen Pyramide. Dieses Gebäude war zu stark; es konnte nicht gestürmt werden. Tausend Raketenbomben würden es nicht zerstören können. Er fragte sich wieder, für wen er das Tagebuch schrieb. Für die Zukunft, für die Vergangenheit – für ein imaginäres Zeitalter, das es einmal später geben könnte. Er würde nicht nur sterben, sondern gänzlich ausgelöscht werden; das Tagebuch zu Asche vergehen und er selbst zu Staub. Nur die Thought Police würde lesen, was er geschrieben hatte, bevor es aus der Existenz getilgt würde und aus jeder Erinnerung. Wie war es möglich, sich an die Zukunft zu wenden, wenn nicht eine Spur, nicht einmal ein anonymes Wort, gekritzelt auf ein Stück Papier, körperlich erhalten blieb?

      Der telescreen schlug 14-00. Winston musste um 14-30 wieder bei der Arbeit sein, also in zehn Minuten aufbrechen.

      Merkwürdigerweise schien ihm dieses Zeitsignal neuen Mut gegeben zu haben. Er war ein einsamer Geist, der eine Wahrheit murmelte, die niemand anders jemals hören würde. Aber solange er sie aussprach, würde die Kontinuität auf eine verborgene Weise erhalten bleiben. Das menschliche Erbe wurde nicht dadurch weitergegeben, sich Gehör zu verschaffen, sondern einfach nur dadurch, bei Verstand zu bleiben. Winston ging zurück zum Tisch, tauchte die Feder ein und schrieb:

      An die Zukunft oder an die Vergangenheit; an eine Zeit, in welcher der Gedanke frei ist, in der die Menschen voneinander verschieden und nicht einsam sind – an eine Zeit, in der die Wahrheit existiert und das, was geschehen ist, nicht rückgängig gemacht werden kann. Aus dem Zeitalter der Gleichförmigkeit, aus dem Zeitalter der Einsamkeit, aus dem Zeitalter von Big Brother, aus dem Zeitalter von doublethink – Seid gegrüßt!

      Winston wurde klar: Er war bereits tot. Es schien ihm, dass erst dann, als er fähig geworden war, seine Gedanken auch zu formulieren, das Entscheidende geschehen war. Die Folgen jeder Handlung sind bereits in der Handlung selbst enthalten. Er schrieb:

      Thoughtcrime zieht nicht den Tod nach sich. Thoughtcrime IST der Tod.

      Jetzt, da sich Winston nun selbst als einen toten Mann erkannt hatte, wurde es ihm wichtig, so lange wie nur möglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte beschmiert. Das war genau jene Art von Kleinigkeit, die gefährlich war: Ein schnüffelnder Eiferer im Ministerium (wahrscheinlich eine Frau; jemand wie die kleine Sandhaarige oder das dunkelhaarige Mädchen aus der Belletristikabteilung) könnte beginnen, sich zu fragen, weshalb Winston während der Mittagspause geschrieben hatte, weshalb er ein altmodisches Gerät dafür benutzt hatte, WAS er geschrieben hatte – und dann eine Andeutung gegenüber der zuständigen Stelle machen. Er ging auf die Toilette und schrubbte die Tinte sorgfältig mit der kiesigen, dunkelbraunen Seife ab, welche dafür gut geeignet war, weil sie die Haut abraspelte wie Schleifpapier.

      Er legte das Tagebuch in die Schublade. Es war völlig sinnlos, daran zu denken, es zu verstecken, aber er konnte sich zumindest vergewissern, ob es entdeckt worden war oder nicht. Ein quer über die Seitenenden gelegtes Haar war zu offensichtlich. Mit der Fingerspitze nahm er ein sicher identifizierbares weißliches Staubkorn auf und deponierte es an einer Ecke des Einbands, von der es abfallen musste, wenn jemand das Buch bewegen würde.

      III

      Winston träumte von seiner Mutter.

      Er musste zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als sie verschwand. Sie war eine große, ausladende, eher schweigsame Frau mit langsamen Bewegungen und prächtigem hellem Haar gewesen. An seinen Vater erinnerte er sich eher undeutlich: dunkel und schmal, immer gut und zurückhaltend gekleidet (Winston waren besonders die sehr dünnen Schuhsohlen seines Vaters im Gedächtnis geblieben) und eine Brille tragend. Winstons Eltern mussten offensichtlich von einer der ersten großen Säuberungswellen der 1950er verschluckt worden sein.

      In diesem Moment nun, träumte Winston, saß seine Mutter tief unter ihm, mit seiner kleinen Schwester im Arm.

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