Alaska Kid. Jack London
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Mit unsäglicher Geduld zog er langsam erst den einen, dann den anderen Arm aus dem Schlamm und streckte sie dann gerade über dem Boden aus, so daß er sein Kinn stützen konnte. Jetzt begann er um Hilfe zu rufen. Bald darauf hörte er Schritte im tiefen Schlamm schlabbern, und jemand näherte sich ihm von hinten.
»Reich mir eine Hand, Kamerad«, sagte er. »Oder wirf mir eine Leine zu oder sonst etwas.«
Eine Frauenstimme antwortete ihm, und er erkannte sie sofort wieder.
»Wenn Sie nur die Riemen aufschnallen wollen, kann ich aufstehen«, sagte er.
Die hundert Pfund rollten mit einem nassen Klatschen in den Schlamm, und es gelang ihm, langsam auf die Beine zu kommen.
»Eine nette Patsche«, lachte Fräulein Gastell als sie sein schlammbedecktes Gesicht sah.
»Durchaus nicht«, antwortete er überlegen. »Es ist meine beliebteste Turnübung. Sie müssen es mal versuchen. Es ist besonders gut für die Brustmuskeln und das Rückgrat.«
Er wischte sich das Gesicht ab und schleuderte dann den Schlamm mit einer raschen Bewegung von der Hand.
»Großer Gott!« rief sie, als sie ihn erkannte. »Das ist… das ist ja Herr… Herr Alaska-Kid!«
»Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre rechtzeitige Hilfe und für diesen Namen«, antwortete er. »Jetzt bin ich zum zweiten Male getauft - künftig werde ich darauf bestehen, daß man mich stets Alaska-Kid nennt. Das ist ein klangvoller Name und nicht ohne Vorbedeutung.«
Er machte eine Pause. Dann wurden sein Gesicht und seine Stimme plötzlich grimmig: »Wissen Sie, was ich jetzt muß?« fragte er. »Nach den Staaten zurückkehren. Ich soll heiraten. Ich werde eine große Kinderschar erziehen. Und abends werde ich dann die Kinder um mich versammeln und ihnen von den Leiden und Entbehrungen erzählen, die ich auf dem Wege nach dem Chilcoot durchgemacht habe. Und wenn sie dann nicht dabei heulen… ich wiederhole es: wenn sie nicht dabei heulen, dann werde ich sie gehörig verdreschen.«
Jetzt näherte sich der arktische Winter mit schnellen Schritten. Der Schnee, der den ganzen Winter über liegenbleiben sollte, lag schon sechs Zoll hoch, und auf geschützt liegenden Gewässern bildete sich trotz der heftigen Stürme schon Eis. Es war spät am Abend, als John Bellew und Kid eine kurze Pause während eines solchen Sturmes benutzten, um den beiden Vettern beim Verstauen des Gepäcks im Boot behilflich zu sein. Dann blieben sie am Strande stehen und sahen sie im Schneegestöber auf dem See verschwinden.
»Und jetzt werden wir die Nacht durchschlafen und morgen ganz früh abfahren«, sagte John Bellew. »Wenn uns der Sturm nicht auf der Paßhöhe festhält, können wir schon morgen abend Dyea erreichen. Und haben wir dann das Glück, gleich den Dampfer zu bekommen, so können wir schon in einer Woche in San Franzisko sein.« - »Warst du zufrieden mit deinen Ferien?« fragte Kid geistesabwesend.
Ihr Lager am Linderman-See bot diese letzte Nacht einen traurigen Anblick dar. Die beiden Vettern hatten alles mitgenommen, was irgendwie brauchbar war, selbst das Zelt. Eine zerfetzte Persenning, die sie ausgebreitet hatten, schützte sie nur zum Teil gegen das Schneegestöber. Ihr Abendbrot kochten sie in ein paar zerbeulten und zerschlagenen Töpfen über dem offenen Feuer. Sonst waren ihnen nur ein paar Decken und Proviant für wenige Mahlzeiten geblieben.
Von dem Augenblick an, da das Boot abgefahren war, schien Kid seltsam unruhig und geistesabwesend geworden zu sein. Sein Onkel hatte seinen Zustand bemerkt, dachte aber, es käme nur daher, daß es jetzt mit der Schufterei vorbei war.
Einige Minuten später entfernte sich Kid in der Richtung des Zeltdorfes, wo die Goldgräber, die noch im Begriff waren, ihre Boote zu bauen oder zu beladen, Schutz gegen den Sturm suchten. Er blieb mehrere Stunden fort. Als er wiederkam und sich in seine Decken hüllte, war John Bellew schon eingeschlafen.
Es war ein dunkler, stürmischer Morgen, als Kid aus seinen Decken kroch und, nur in Strümpfen, ein Feuer zu machen begann, bei dem er zunächst seine gefrorenen Stiefel auftaute. Dann kochte er Kaffee und briet Speck. Es war dennoch eine kalte und ungemütliche Mahlzeit. Sobald sie vorbei war, legten die beiden ihre Decken zusammen.
Als John Bellew sich dann anschickte, den Rückweg über den Chilcoot anzutreten, reichte Kid ihm die Hand und sagte: »Auf Wiedersehen, lieber Onkel.«
John Bellew sah ihn an und fluchte vor lauter Überraschung.
»Aber was in aller Welt hast du vor?«
Kid zeigte unbestimmt mit der Hand nach dem Norden über den sturmgepeitschten See hinaus.
»Was für einen Sinn hat es umzukehren, wenn ich schon so weit gekommen bin?« fragte er. »Außerdem habe ich Geschmack an Bärenfleisch gefunden. Ich esse es sehr gern. Deshalb gehe ich los.«
»Aber du bist ja ganz abgebrannt«, entgegnete ihm John Bellew, »und hast keine Ausrüstung.«
»Ich habe eine Stellung gefunden. Guck dir mal deinen Neffen Christoffer Bellew an! Er hat jetzt eine Stellung! Er ist Angestellter bei einem feinen Herrn! Er hat eine Stellung mit hundertfünfzig Dollar monatlich und freier Beköstigung. Er geht nach Dawson mit zwei Trotteln und einem anderen Angestellten dieses feinen Herrn - als Lagerkoch, Bootsführer und Mädchen für alles. Und O'Hara und die Woge können zum Teufel gehen! Auf Wiedersehen.«
John Bellew war immer noch ganz aus dem Häuschen und konnte nur stottern: »Aber ich verstehe nicht…«
»Man sagt, daß es eine Menge von Grizzlybären im Yukon-Tal gibt«, erklärte Kid. »Na - und ich habe nur eine Garnitur Unterwäsche und Lust auf Bärenfleisch, das ist alles.«
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