Auferstehung. Лев Толстой
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Und plötzlich begriff er, daß jener Abscheu, welchen er in der letzten Zeit und besonders heute gegen die Menschen empfand, gegen den Fürsten Kortschagin, gegen die Fürstin, gegen Missy, gegen Kornej, der Abscheu gegen sich selbst war. Und wie seltsam, in diesem Geständnis seiner Niedrigkeit war etwas Krankhaftes und zugleich Freudiges und Beruhigendes.
Nechljudow erfuhr nicht zum ersten Male im Leben das, was er »Seelenwäsche« nannte. Seelenwäsche pflegte er jenen Zustand der Seele zu nennen, da er plötzlich, nach einem größeren Zeitraum, die Verzögerung oder bisweilen auch den Stillstand in seinem inneren Leben erkannte und die Seele von all dem Schmutz zu säubern begann, der durch seine Anhäufung den Stillstand verursacht hatte.
Jedes Mal nach solcher Erweckung stellte Nechljudow sich Regeln auf, die er sich für immer zur Richtschnur nehmen wollte. Er begann ein Tagebuch zu führen und fing ein neues Leben an, welches er nie mehr zu ändern hoffte, — turning a new leaf, wie er zu sagen pflegte.
Aber jedesmal nahmen ihn die Verführungen der Welt wieder gefangen, und ohne es selbst zu merken, fiel er von neuem und zuweilen noch tiefer, als er vordem gestanden hatte.
Auf diese Weise hatte er sich mehrere Mal gereinigt und erhoben; so zum ersten Mal, als er damals den Sommer bei den Tanten verbrachte. Das war damals die aller lebhafteste und begeisterste Erweckung gewesen, und die Folgen derselben hatten lange angehalten. Eine ähnliche Erweckung geschah dann, als er seine staatliche Beamtenstellung aufgegeben hatte und in der Absicht, sein Leben aufzuopfern, während des Krieges in den Militär dienst getreten war. Da war aber die Verschmutzung sehr bald eingetreten. Die darauf folgende und letzte Erweckung war gewesen, als er seinen Abschied genommen, ins Ausland gereist war und sich mit Malerei zu beschäftigen begonnen hatte.
Von da an und bis zum heutigen Tage war eine lange Periode ohne Säuberung verflossen. Und daher war er auch noch nie bis zu einem solchen Grade von Verschmutzung und Zerwürfnis zwischen dem Gebot feines Gewissens und dem Leben, das er führte, gekommen. Und er entsetzte sich, als er den Zwischenraum gewahrte.
Der Zwischenraum war so groß, die Verschmutzung so stark, daß er im ersten Augenblick an der Möglichkeit einer Säuberung verzweifelte. »Ich habe doch schon versucht, mich zu vervollkommnen und besser zu werden, und es ist nichts daraus geworden . . . « sprach in seiner Seele die Stimme des Verführers, »wozu also es noch einmal probieren? Nicht du allein, sondern alle sind so, so ist das Leben«, sagte diese Stimme. Aber jenes freie geistige Wesen, welches allein wahr, allein mächtig, allein ewig ist, war schon in Nechljudow erwacht. Und er konnte nicht umhin, ihm zu glauben. Wie groß sich auch der Unterschied zwischen dem, was er war, und dem, was er sein wollte, erwies, dem erwachten geistigen Wesen erschien alles möglich.
»Ich zerreiße diese Lüge, in die ich verstrickt bin, möge es kosten, was es wolle . . . Ich sage alles und allen die Wahrheit und thue die Wahrheit«, sagte er laut und entschieden. »Ich werde Missy die Wahrheit sagen, sagen, daß ich ein Wüstling bin und sie nicht heiraten kann und umsonst ihre Ruhe gestört habe. Ich werde Marja Wassiljewna, der Frau des Adelsmarschalls — übrigens, ihr brauche ich es nicht zu sagen — ich werde ihrem Manne sagen, daß ich ein Schuft bin und ihn betrogen habe. Mit der Erbschaft werde ich so verfahren, wie es die Wahrheit gebietet. Ihr, Katjuscha, werde ich sagen, daß ich ein Schuft und ihr gegenüber schuldig bin, und ich werde alles thun, was ich kann, um ihre Lage zu erleichtern. Ja, ich werde sie sehen und sie bitten, mir zu vergeben. Ja, ich werde um Verzeihung bitten, wie Kinder bitten . . . «
Er blieb stehen.
»Ich werde sie heiraten, wenn es nötig ist.« Er blieb wieder stehen und faltete die Hände vor der Brust, wie er es als Kind gethan hatte.
Er erhob die Augen und stammelte die Worte des Gebetes:
»Herr, Herr Gott, hilf mir, lehre mich, komme zu mir, Herr, und ziehe in mich ein und läutere mich von allem Übel . . . «
Er betete und bat Gott, ihm zu helfen, ihn zu läutern, und während er dieses that, war das, worum er bat, schon geschehen. Gott, der in ihm lebte, nahm Besitz von seiner Seele. Nechljudow sah nicht nur das Leben bereits frei, rüstig und freudig an, sondern empfand auch die ganze Macht des Guten. Alles, alles Beste, was der Mensch nur thun konnte, fühlte er sich jetzt bereit zu vollbringen.
In seinen Augen standen Thränen, als er sich das alles sagte; gute und schlimme Thränen. Gut waren die Thränen, weil es Thränen der Freude über die Erweckung des geistigen Wesens waren, das alle die Jahre über in ihm geschlummert hatte. Und schlimm waren die Thränen, weil es Thränen der Rührung über sich selbst, über seine eigene Tugend waren.
Ihm wurde heiß. Er trat an das bereits für den nahenden Frühling hergerichtete Fenster und öffnete es. Das Fenster lag zum Garten hinaus. Es war eine stille, frische Mondnacht, auf der Straße rasselte ein Wagen und alles wurde wieder still. Gerade unter dem Fenster sah man den Schatten der entblößten Äste einer hohen Pappel, der in allen seinen Verzweigungen deutlich auf dem Sande eines freien Platzes lag. Links war das Dach eines Wirtschaftsgebäudes, das in dem hellen Mondlicht weiß erschien; vorn verschlangen sich die Äste der Bäume, hinter welchen der schwarze Schatten eines Zaunes lag.
Nechljudow blickte auf den im Mondschein flimmernden Garten, auf das Dach und auf den Schatten der Pappel, horchte hinaus und atmete die frische, belebende Luft ein.
»Wie schön, wie schön! Mein Gott, wie schön!« sprach er von dem, was in feiner Seele war.
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